Der Adolf in uns

Zeitgenössisches von Friedrich Christian Delius

Von Eva LeipprandRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eva Leipprand

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Tel Aviv 1997: Die Deutsche Oper Berlin gibt ein Gastspiel. Ein Mitglied des Orchesters unterschreibt seine Getränkequittung an der Hotelbar mit "Adolf Hitler". Ein unerhörter Skandal, der die deutsch-israelischen Beziehungen, den Ruf des Orchesters und das Ansehen der Deutschen im Ausland schwer beschädigt. Der Musiker, ein Kontrabassist, wird fristlos entlassen.

Ein Fall wie geschaffen für Friedrich Christian Delius. Delius schreibt zeitgenössisch. Er greift Ereignisse der bundesrepublikanischen Realität auf, um sie fiktiv auszukleiden und zu deuten, die "vielen kleinen Tragödien zwischen politischem Betrug und Selbstbetrug der Individuen" (Delius in der "Woche"). Nach dem deutschen Herbst 1977, der Wiedervereinigung und der Weltmeisterschaft 1954 (eine Kindheitsepisode) nun das Thema, das wie ein brauner Schatten auf den vergangenen fünfzig Jahren liegt: der Adolf in uns. Aus der Täter-Ich-Perspektive geschrieben, zeigt Delius´ neues Buch, wie dieser Adolf auch fünfzig Jahre peinlichster Versöhnungsbemühungen überdauert hat und unversehens immer wieder auftaucht. Der Adolf in uns, so der Erzähler, kommt heraus wie der Husten im Konzert, den man lange vergeblich unterdrückt, aber dann kommt er doch, und der Huster ist der Störer, der Täter, obwohl doch alle anderen den Reiz genauso spüren und ihm jederzeit erliegen können. Jeder deutsche Israelreisende hat "den Holocaust im Gepäck". Trotz aller mit deutscher Gründlichkeit durchgeführten Bußübungen: es gibt einfach "kein korrektes Verhalten zu Auschwitz".

Wie stellt sich Delius den Mann vor, der in Israel mit "Adolf Hitler" unterschreibt? Hannes, der Ich-Erzähler, schon durch den Instrumentenwechsel vom Kontrabaß zur Posaune als fiktiv ausgewiesen, gibt uns ein eher abfälliges Bild von sich selbst: irgendwie hat er alles falsch gemacht im Leben. Er ist nicht der strahlende Solotrompeter seiner Träume geworden, sondern ein "Tuttischwein", weit hinten im Orchestergraben. Er ist zwar Stimmführer und beherrscht die "Flatterzunge" beim Blasen perfekt, ist es aber "nicht gewöhnt, ohne Dirigent zu spielen, ohne Taktstock zu denken". Er holt sich seinen kleinen Anteil vom Beifall, der eigentlich den großen Sängern gilt. Er ist schwach, unpolitisch, geht auf Nummer Sicher, tut, was andere sagen - ein deutscher Beamtentyp, unverkennbar. Bezeichnend sein "Jericho-Komplex": einmal im Leben mit der Posaune eine Mauer umlegen! Er ist so mittelmäßig, daß er nicht einmal ein richtiges Verbrechen hinkriegt. Nur um den Barmann zu korrektem Verhalten zu bringen, hat er die fatale Unterschrift geleistet und dabei den "Nazibruchteil in jedem Deutschen" offenbart. Er weiß, er ist schuld, er gibt alles zu, aber seine Verteidigung ist eher trotzige Ausrede als Entschuldigung. Eine hoffnungsvolle Liebesbeziehung scheitert an dieser Einstellung, ändert sie aber nicht: Er ist nicht anders als die andern, die ihn jetzt ausgrenzen und an den Pranger stellen.

Hannes klagt auf Wiedereinstellung ins Orchester. Er schreibt seine Geschichte auf, eher reflektierend als erzählend, in Kreisen auf den eigentlichen Vorfall hinführend. Was zunächst als Verteidigungsvorbereitung für die Gerichtsverhandlung gedacht ist, wird ein innerer Dialog, ein Tagebuch, das auch aktuelle Nachrichten und Träume aufnimmt. Allerdings erhebt sich das Geschriebene über den Schreibenden in der überlegenen Präzision der Formulierung. Delius, nach eigener Auskunft zwischen "Schreiben" und "Disputieren" schwankend, entwickelt die Geschichte ins Exemplarische, was dem Thema klare Konturen gibt, aber die Figur nicht eigentlich von innen belebt. Die erzählerische Phantasie schafft keine eigene Welt, sondern wandert an den Fakten entlang. Hannes gibt uns sehr direkt, wie von außen, Auskunft über seinen Charakter, eine Entwicklung ist nicht erkennbar. Auch der Schluß bringt nichts eigentlich Neues, sondern rundet das Thema ab. Der Posaunist folgt der Einladung eines Off-Theaters nach Tel Aviv. Was man dort von ihm erwartet: "Just be the German you are."

Bei der "Flatterzunge" ist das Lesevergnügen vor allem ein kognitives, die Freude an der scharfsichtigen Analyse und der Klarheit des Aufbaus. Der Text erhält Struktur durch ein Netz von Bildern vorwiegend aus dem Musikermilieu. Das Soziotop Orchester wird zur ironischen Parabel unserer Gesellschaft. Der "Jericho-Komplex" richtet sich gegen die Berliner Mauer genauso wie gegen die Mauern der Selbsttäuschung. Ein schönes zeitgenössisches Bild ist der Potsdamer Platz in Berlin, "der mauerlose Herzpunkt der Mauerstadt", der unversehens, mit seinen Baugruben und hochaufschießenden Palästen über dem "unsichtbaren Führerbunker", zugleich geschichtsträchtig-vielschichtig wie lustvoll veränderbar, zum Abbild der deutschen Seele wird.

Titelbild

Friedrich Christian Delius: Die Flatterzunge.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1999.
128 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3498013106

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