Mit Melancholie grundiert

Zsuzsa Bánks Erzähltableau "Der Schwimmer"

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Alle lieben Ungarn", heißt es bei Hans Magnus Enzensberger, "zufrieden sind die Gemüse-Importeure und die Badegäste, die Filmproduzenten und die Aufpasser vom Internationalen Währungsfonds." Und sogar die Schriftsteller, könnte man ergänzen. 1956, das Jahr der "Ungarischen Wirrungen" (Enzensberger), ist in der deutschen Literatur kein unwichtiges Datum. Damals, als Brecht starb und Döblins Hamlet-Roman erschien, als der ungarische Volksaufstand niedergeschlagen und Walter Janka der Prozess gemacht wurde, damals ist Jakob Abs quer über die Gleise und Gesine Cresspahl illegal über die Grenze gegangen. Ost und West standen sich unversöhnlich gegenüber, die Reisefreiheit war eingeschränkt und die Idee des Sozialismus gestorben. Viele gingen auf und davon, um etwas besseres als den Tod zu finden. Durch den Debutroman der Frankfurter Autorin Zsuzsa Bánk (geboren 1965) bekommt diese negative Utopie neues Gewicht: Denn hier wird sie, ganz ohne Sozialromantik, aus der Perspektive eines halbwüchsigen Mädchens erzählt.

Kata und ihr kleiner Bruder Isti wachsen ohne Mutter auf, und ihr Vater hat durch den Weggang seiner Frau die Orientierung verloren. Mit seinen Kindern reist er quer durchs Land. Er bringt die Geschwister bei Verwandten unter und verdingt sich als Erntehelfer oder Hilfsarbeiter. Von der Mutter kommen gelegentlich Briefe aus Westdeutschland, wo sie in einer Gaststätte als Spülerin arbeitet: "Meine Mutter hatte sich damals nicht von uns verabschiedet. Sie war zum Bahnhof gelaufen, wie an vielen anderen Tagen auch. Sie war in einen Zug gestiegen, Richtung Westen, Richtung Wien. Wie selten Züge von unserem Bahnhof aus in Richtung Wien fuhren, das wußte ich. Meine Mutter muß lange gewartet haben. Sie hatte genügend Zeit, es sich anders zu überlegen. Um zurückzukommen. Um uns Auf Wiedersehen zu sagen. Um uns noch einmal anzuschauen."

Die Botschaften aus der Fremde sind selten, Post zu bekommen ist noch etwas Besonderes. Überhaupt trägt die dargestellte Welt weitgehend archaisch-bäuerliche Züge: Man denkt und handelt in familialen Strukturen, Liebesheiraten bilden die Ausnahme, gewöhnlich bestimmen die Eltern die Partnerwahl ihrer Kinder. Von auffällig geringer Bedeutung ist die Kirche, aber Ungarn ist ein kommunistischer Staat, und so sind die Opfer, die gebracht werden, zumeist weltlicher Art. Die Kinder sind früh an Verlusterfahrungen gewöhnt, und auch der Vater verabschiedet sich nicht, wenn er - oft tage- und nächtelang - fortbleibt. "Das Komische war", sagt Kata, "unser Leben ging weiter, obwohl meine Mutter uns verlassen hatte."

Im Sommer bringt der Vater den Kindern das Schwimmen bei, geduldig, ohne auf Einwände zu hören: "Warum müssen diese Kinder schwimmen?, und mein Vater hatte geantwortet, sie müssen eben." Nach dem Sommer werden die Geschwister in die Schule gesteckt, und im Laufe der Jahre lernen sie viele Schulen kennen. Sie werden älter und sind bald des ewigen Reisens müde. Umziehen tendiert zur sujetlosen Textschicht: "Wir gingen zur Schule, verließen die Schule wieder, holten Bücher, gaben sie zurück, merkten uns Wege, Türen, Namen, Gesichter und vergaßen sie, sobald wir abreisten." Einmal besucht die Großmutter ihre verlorene Tochter im Westen: "In den Wohnungen habe man Gummibäume, bunte Böden aus Kunststoff, unter den den Zimmerdecken Kreise aus Neon, und die Wände seien beklebt mit Streifentapeten."

Zsuzsa Bánks Roman besteht aus lauter kleinen Erzähleinheiten, die sich zum Tableau fügen. Größere Spannungsbögen entstehen dabei nicht, jedes Kapitel ist - bis auf das erste ("Wir") - mit dem Namen einer Hauptfigur überschrieben: Man erfährt, nicht ohne Anteilnahme, von fremden Biographien, doch nur, um sie sogleich wieder zu vergessen. Istis Tod allein bleibt haften. Nennenswerte erzählerische Entwicklungen dagegen sind nicht auszumachen, selbst die Biographien bleiben konventionell. Sie sind Spielmaterial, fast beliebig toposhaft versetzbar, und so ist es auch mit der Lektüre: Der Leser kann im Buch springen, kann vor- oder zurückblättern - die Anschlüsse stimmen immer.

Zsuzsa Bánks Sätze sind ökonomisch kurz und mit Melancholie grundiert. Die Welt ist so eng wie - jedoch weniger bedrohlich als - die Welt in den Büchern von Herta Müller, die ihre Leser Anfang der 80er Jahre mit atmosphärisch dichten Erzählungen aus der vormordernen, beklemmenden Welt des Banats beeindruckte. Während Herta Müller die eigene Geschichte geradezu physisch erfahrbar verwandelte, hat sich Zsuzsa Bánk einen fremden Stoff angeeignet. Ihr Debut markiert zugleich einen Endpunkt, denn es lässt sich nicht, wie im Falle Herta Müllers, als Beginn einer produktiven Obsession lesen. Gleichwohl ragt es aus dem deutschen Bücherherbst heraus, völlig zurecht ist es mit dem Aspekte-Literaturpreis und dem Erich-Ponto-Förderpreis ausgezeichnet worden. Einiges spricht dafür, dass Zsuzsa Bánk das Potential dazu hat, sich neue Stoffe zu erschließen und als Autorin zu etablieren. Ob sie an die großen Erzähler anschließen kann, ob sie es lernen wird, Geschichten zu entwickeln und ihre Leser zu führen, bleibt offen.

Titelbild

Zsuzsa Bánk: Der Schwimmer. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
287 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 310005220X

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