Gegenwärtige Vergangenheit
Die Baden-württembergischen Literaturtage in Fellbach laden unter anderem ein, Hermann Lenz zu lesen
Von Ulrich Rüdenauer
Fast schaut es aus, als wäre die Hand völlig losgelöst vom Körper aus einem dunklen Nichts aufgetaucht, eine Stahlfeder umgreifend oder vielleicht doch eher mit ihr verwachsen; sie schweift über ein Blatt Papier und wirft dabei Schatten. In einer fast zierlichen Schrift, die leicht nach rechts zu kippen droht, reiht sich Zeile an Zeile. Das hat etwas Feines: Ein Einkaufszettel wird so nicht geschrieben, eher schon etwas, das aufs Große angelegt ist, das man einmal ein Werk nennen wird. Die Hand findet sich auf einem Plakat, das einem zunächst am Ortseingang von Fellbach begegnet, dann alle paar Meter, bis man am Rathaus anlangt, wo vor wenigen Tagen die 19. Baden-Württembergischen Literaturtage eröffnet worden sind. "Erinnerung, Gedächtnis, Gedenken" - mit dieser hehren Trinität als Leitmotiv präsentiert sich das Literaturfest im Dienste der Leseförderung in den nächsten vier Wochen.
Mit besagter Hand hat es dabei etwas Besonderes auf sich. Sie gehört Hermann Lenz, der bei den Literaturtagen mit verschiedenen Veranstaltungen gewürdigt wird. Aber das Kulturereignis erschöpft sich nicht in der lohnenden Erinnerung an den "schwäbischen Proust": Mit insgesamt 70 Lesungen, Diskussionen oder Ausstellungen und 50 Beteiligten - von Robert Menasse über Arnold Stadler, Brigitte Kronauer und Péter Nádas bis zu Sigrid Löffler - trumpft das Ländle zum Abschluss seines 50. Geburtstages noch mal auf. Zwar kommen die Literaturtage rein quantitativ nicht ganz an das hauptstädtische Literaturfestival heran, aber Fellbach ist auch nicht Berlin, sondern eine schwäbische Kleinstadt, ganz nah bei Stuttgart.
Ein schönes Rathaus hat die Stadt: modern, keine zwanzig Jahre alt, an verzierenden Materialien hat der Architekt nicht gespart und auch nicht an einem durchgängigen Thema, das im gesamten Gebäude durchgespielt wird: der Halbkreis. Das ist symbolisch gemeint und demonstriert Heimeligkeit und Offenheit zugleich - so kommt man hier zusammen im Zeichen der Literatur, isst Brezeln und trinkt Wein. Groß ist das Gebäude auch, groß genug für zwei Ausstellungen, die man bei der Eröffnung vor lauter Besuchern allerdings kaum anschauen kann. In einer Ecke finden wir die Lenz'sche Hand vom Plakat wieder, diesmal als großformatige Schwarz-Weiß-Fotografie. Daneben das Foto einer Schatulle mit einem Vorrat an Stahlfedern, den sich Hermann Lenz angelegt hat, als er befürchtete, bald würden nur noch Kugelschreiber hergestellt werden und er könnte so seines Produktionsmittels verlustig gehen. Und schließlich ist da auch der ganze Mann abgebildet: ein alter, schon sehr gebrechlicher Hermann Lenz, der allerdings in seinem Anzug noch immer etwas Vornehmes ausstrahlt und mit seinem Lächeln eine heitere Zuversicht vermittelt.
Die Fotografien von Hermann Lenz, seiner Schreibstube und seiner Handschrift sind Teil der Ausstellung "Im Schreiben zu Haus". Herlinde Koelbls Bilder, als Buch vor vier Jahren erschienen, zeigen Autoren an ihrem Arbeitsplatz. Es ist ein Blick in eine intime Sphäre, der trotz aller voyeuristischen Lust darauf bedacht ist, ein Geheimnis zu wahren, im Offenlegen der manuellen Grundbedingungen des Schreibens das Rätsel des Textes vielleicht noch zu vergrößern.
Koelbls fotografische Atelierbesuche umrahmen eine weitere Ausstellung: "Hermann Lenz. Vergangene Gegenwart". Sie wurde von der Bayerischen Staatsbibliothek zusammengestellt und nun um einige Exponate der Witwe Hanne Lenz ergänzt. In München, dem letzten Wohnort von Lenz, liegt der größte Teil seines Nachlasses. Den größten Teil seines Lebens hat er in Stuttgart verbracht. Man hat ihn hier zu Lebzeiten nicht so recht spüren lassen, dass man ihn schätzt. Dabei hätte es genügend Gründe dafür gegeben, wie in den neun, an den Eugen-Rapp-Romanen entlang entworfenen Vitrinen deutlich wird: Lenz hat mit seinem alter ego wie kaum ein zweiter seinen "inneren Bezirk" ausgeleuchtet und damit zugleich eine Mentalitätsgeschichte des 20. Jahrhunderts vorgelegt. Die Ausstellung zeigt in Bildern, Zeitungsausschnitten, Briefen und Manuskripten Parallelen zwischen Eugen Rapp und Hermann Lenz auf, der einmal geschrieben hat: "Wie's aber in Wirklichkeit war, weiß niemand", da das Wirkliche sich eben aus Gedanken, Gefühlen und Empfindungen zusammensetzt und das Erlebte vom Erinnernden stets interpretiert, niemals aber abfotografiert werden kann. Damit rückt Lenz nicht zu Unrecht in den Mittelpunkt dieser Veranstaltungsreihe, die sich in Zeiten einer wieder verstärkt aufkeimenden Kanondiskussion und einer feuilletonistischen Verabschiedung popkultureller Jetzt- und Akzelerationskonzepte die Frage nach Erinnerung und Gedächtnis auf die Fahne geschrieben hat.
"Vergangenheit ist." Sagte Hermann Lenz in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen von 1986. "Sie kann weder verändert noch bewältigt werden und steht da wie ein Fels. An ihr kann die Struktur des Lebens deutlicher sichtbar gemacht werden als an der sich ständig verändernden Gegenwart, die, wenn man's genau nimmt, nur aus diesem einen Augenblick besteht, der jetzt schon vorbei ist."
Auch die literarische Vergangenheit ist. Allerdings bedroht. Was, wenn man sich an sie nicht mehr erinnern mag, wenn verloren geht, was vorige Jahrhunderte selbst an Höhenkammtexten hervorgebracht haben, weil man sich nicht mehr die Mühe macht, sie verstehen zu wollen? "Was bleibet aber", fragte sich also der Stuttgarter Literaturwissenschaftler Heinz Schlaffer in seinem Festvortrag. Die Antwort überraschte kaum, wenn man Schlaffers Aufsehen erregende "Kurze Geschichte der deutschen Literatur" zur Kenntnis genommen hat: Nichts bleibet, zumindest nichts, was die Dichter stiften. Denn "von der Gegenwart bleibt ohnehin fast nie was, und von der Vergangenheit bleibt nichts, weil die Literatur der Gegenwart das verbleibende Interesse aufsaugt". Heute, so Schlaffer, gebe es ausschließlich "Lektüreabschnittspartner" - nichts was Bestand hätte. Weshalb auch die Kanonfrage eine letztlich obsolete sei: Das allgemeine Wissen über vergangene Literatur, die eine zeitaufwendige und voraussetzungsreiche Lektüre erfordere, sei so gering, dass ein Kanon heutzutage eher einer Hitliste ähnele, persönlichen Vorlieben der jeweiligen Kanonstifter geschuldet. Und außerdem: Die Beschleunigungsmaschine Literaturbetrieb mit ihrem "forcierten Ereignischarakter" zerre die gegenwärtigen Dichter vom Schreibtisch weg auf die Bühne von Literaturhäusern oder ins Fernsehen, oder halt zu den Baden-Württembergischen Literaturtagen, die genau die beanstandeten Eventkriterien erfüllen und an der paradoxen Situation teilhaben, dass immer weniger gelesen, aber immer mehr vorgelesen wird. Tote Literaten geraten da ins Hintertreffen: Sie können sich nicht mehr selber inszenieren.
Weil Literatur heute eine Folge von Performanzen sei, wie Schlaffer mit arg kulturpessimistischem Unbehagen feststellte, antwortete der Schriftsteller Jens Sparschuh mit einer Performance ganz eigener Art. Er gewährte in Tagebuchform einen amüsant-ironischen Einblick in das mühselige Tagesgeschäft eines Autors, der eine brillante Idee hat - er möchte gerne eine bahnbrechende, wenn auch etwas absurde Novelle über Goethes Wunsch, in Marienbad eine Kuckucksuhr zu kaufen, schreiben -, mit unerwarteten Komplikationen seines Vorhabens konfrontiert wird und obendrein noch die Schlaffersche Literaturgeschichte in die Hand bekommt. Die verstimmt ihn ob ihrer deprimierenden und für einen zeitgenössischen Autor äußerst kränkenden These, dass man die letzten fünfzig Jahre deutscher Literatur glatt vergessen könne, so sehr, dass er das Buch gar aus dem Fenster wirft. Das alles trug Sparschuh mit einer heiteren Gelassenheit vor und hatte die Lacher eindeutig auf seiner Seite: "Mal sehen, wer es länger aushält: der Literat ohne Literaturwissenschaft oder der Literaturwissenschaftler ohne Literatur."
Von solchen Debatten hat sich Hermann Lenz nie wirklich berührt gefühlt. Er saß in seiner Dachstube und schrieb, weil ihm das Leben sonst zu wenig gewesen wäre. Der so genannte Betrieb war ihm nicht ganz, aber relativ gleichgültig, auch als Lenz von diesem schließlich doch noch entdeckt wurde. Als auf dem Heimweg von der Eröffnungsveranstaltung wieder das Werbeplakat am Straßenrand auftaucht, die Hand, die Stahlfeder, sind plötzlich die passenden Zeilen aus einem Gedicht von Hermann Lenz da: "Zärtlichkeiten in den Fingerspitzen/ Und die Zärtlichkeit für die Wörter, die Verse, / Die Rhythmen im Gewühle der Zeit."
Informationen über das Programm der baden-württembergischen Literaturtage finden sich im Internet unter www.bw-literaturtage.de.