Tatort Deutschland

Ulrich Woelks "Die letzte Vorstellung" arbeitet deutsche Vergangenheit auf

Von Gustav MechlenburgRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gustav Mechlenburg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit einer letzten Vorstellung ist meist Melancholie verbunden. Eine Spielzeit geht zu Ende oder eine Ära. Auf Ulrich Woelks neuen Roman "Die letzte Vorstellung" trifft beides zu. Der Besuch der letzten Aufführung von Mozarts "Zauberflöte" im Jahr ist für Kommissar Anton Glauberg nicht nur ein winterlich-melancholisches Kunstereignis, das er gerne noch wahrnehmen möchte, sondern der Opernbesuch verhilft ihm darüber hinaus auch zur Aufklärung eines mysteriösen Mordfalls, der auf verworrene Weise die Zeit von RAF und Stasi noch einmal aufleben lässt - sozusagen als letzte Vorstellung untergegangener Denksysteme, die ihren nostalgischen Reiz noch nicht verloren haben.

Dass der Autor dabei nicht ohne Klischees auskommt, ist bei der Themenwahl fast zwangsläufig vorbestimmt, schadet dem Buch aber keineswegs. Im Gegenteil, gute Krimis leben gerade vom souveränen Umgang mit Stereotypen, die Woelk in geschliffenen Dialogen kontrastreich zu zeichnen versteht.

Wie in einem klassischen "Tatort" ist auch bei Woelk der Mord bereits geschehen. Worum es geht, ist dessen Aufklärung. Spannung wird also nicht durch Grusel, sondern durch Kombinationslust erzeugt. Und Anlass zum Mitdenken wird zur Genüge geboten, zumal dem Leser immer weniger mitgeteilt wird, als die Protagonisten selbst bereits wissen. Ein Trick, der, so sehr er sich auch bewährt hat, mitunter natürlich auch auf die Nerven gehen kann. Insbesondere wenn die Handlungskonstruktionen doch allzu gewagt erscheinen.

Das Buch beginnt also mit der Entdeckung der Leiche. Wie sich bald herausstellt, handelt es sich um einen ehemaligen RAF-Terroristen. Wie eine Hinrichtung wirkt das Szenario. Mit Klebstreifen am Stuhl fixiert und mit einem Kopfschuss dahingestreckt. Ist diese Tötungsmethode auch keine alltägliche, so ist für die Aufklärer doch etwas anderes noch viel erstaunlicher: Eine Arie aus Mozarts "Zauberflöte" läuft im CD-Player auf Dauer-Repeat. - So kulturbeflissen kannte man die Rote Armee Fraktion bisher nicht.

Dennoch wird der terroristischen Vergangenheit des Ermordeten als Motiv für die Tat nachgegangen. Für unwahrscheinliche Zufälle ist sich der Autor dabei nicht zu schade. Der leitende Kriminalbeamte ist - so will es das Schicksal - der Halbbruder des Opfers, zu dem er jahrelang keinen Kontakt mehr hatte. Dass er ihn kennt, gibt er natürlich erst mal nicht zu. Wir wissen, er würde sonst wegen Befangenheit suspendiert oder vom Fall abgezogen.

Mit dem Kleinstadtkommissar aus Niebüll lässt Woelk die komplexeste und zugleich komplexbelandenste Figur seines Romans auftreten. Von Anton Glauberg erfahren wir als einzigem auch etwas über sein Privatleben. Dass er geschieden ist und einen Sohn hat, der seit der Trennung der Eltern im "schlichten Gut-Böse-Universum irgendwelcher Zeichentrickfiguren" lebt. In Küchengesprächen mit seiner Ex-Frau zeigt er sich als melancholisch-verschlossener Stoffel. "Mein Gott, in mir ist das, was in allen Männern ist", entgegnet er auf den Vorwurf mangelnder Mitteilsamkeit. "Ich versuche, mich durchs Leben zu schlagen und meine Familie zu ernähren. Das ist das, was meinen Tag bestimmt. Und dazu jage ich seit Jahren irgendwelchen mittelmäßigen Kriminellen hinterher, so dass mein Sohn mich schon für einen Versager hält. Das ist der Teil meines Lebens, von dem du meinst, dass er dir fehlt. An dem teilzuhaben du einklagst." So richtig schlau wird man aus seiner frustrierten und desillusionierten Person allerdings nicht. Ob es sich um kurzweilige Midlifecrisis oder tiefer greifende Verzweiflung an der Welt handelt, wird bis zum Schluss nicht deutlich.

Der Widerpart zu Glauberg findet sich in Paula Reinhardt. Die erfolgssüchtige BKA-Beamtin ist aus dem Osten, hat die DDR aber auf Grund ihres Alters nur als Jugendliche erlebt. Erstaunlich früh am Tatort, nimmt sie die Untersuchung in eine ganz andere Richtung auf. Sucht ihr Kollege im früheren Westen und dem terroristischen Umfeld nach dem Täter, konzentriert sich ihre Aufmerksamkeit auf die DDR-Vergangenheit des RAF-Aussteigers.

Beide Ermittler sind sich selbstverständlich und genretypisch nicht grün. Das belebt den Roman nicht unwesentlich, da er an Handlung im Weiteren nicht viel zu bieten hat. Und so kann das Balance-Spiel beginnen. Zu allem gibt es eine andere Seite: Zum Osten den Westen. Zur RAF die Stasi. Zur Stadt das Land - und so weiter und so fort. Ausgewogen bis dialektisch geht es zu bei Woelk. Kein Diskurs, der nicht angesprochen würde und zu dem es nicht einen Gegendiskurs gäbe. Ohne bekannte Plattitüden und Larmoyanz kommen die Diskussionsteilnehmer wie Ex-Stasi-Offiziere, zynische Alt-Linke und Spitzel da nicht aus. Und dennoch gelingen Woelk Kontroversen auf hohem Niveau.

Für einen politischen Roman zwar zu wenig, für ein TV-Drehbuch jedoch zu viel, gewinnt "Die letzte Vorstellung" insbesondere durch die Beschreibungskunst des Autors, die vor bedeutungsvollen Naturschauspielen nicht zurückschreckt: "Hier im Norden nahe der dänischen Grenze lag der Herbst matt und geräuschlos auf den Weiden. Die feuchten Marschwiesen, die im Sommer zartgrün waren, erstreckten sich grau und eben wie Zinn bis zum Horizont, und Himmel und Erde verschwammen miteinander zu einer einförmigen Landschaftsfläche, die beim Betrachten manchmal den Eindruck erweckte, ganz nah zu sein und im nächsten Moment wieder sonderbar fern." Was als Anfang eines Romans etwas zu gekünstelt daherkommt, erweist sich im späteren Verlauf als programmatische Kontrastierung zur Großstadt Berlin, deren Regierungsviertel wohl noch keinem Autor so düster und markant darzustellen vergönnt war. "Die Kälte, so schien es, hatte die Stadt in Einzelnes zerfallen lassen, die Entfernungen zwischen den Dingen waren größer geworden", lässt Woelk seinen Helden philosophieren, und man weiß, wie sehr sich Glauberg, nach der unerwarteten Auflösung des Falls, nach der verschwommenen nordischen Heimat sehnt, wo gut und böse, richtig und falsch nicht mehr als menschliche Illusionen gegenüber den unwandelbaren Gezeiten des Meeres sind. Dass Woelk keine politischen oder lebensphilosophischen Konzepte anbietet, darin besteht die Größe des Romans. Wollte Woelk aber doch mehr als nur die Attitüde seines einsamen Ermittlers darstellen, könnte man an dem durchgehaltenen Relativismus schier verzweifeln.

Titelbild

Ulrich Woelk: Die letzte Vorstellung. Roman.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2002.
320 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3455079113

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