Tanzende Buchstaben im Nachmittagslicht

Michael Maars neue Essaysammlung "Die falsche Madeleine"

Von Oliver JahnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Jahn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vladimir Nabokov, Marcel Proust und all die andern hätten sich, so darf man vermuten, über einen Leser wie ihn gefreut. Einen, der nicht mit großer Geste in die weitläufigen Wohnzimmer ihrer Werke hineingeplatzt kommt und lauthals jubelnd jene abgeschmackten Plattheiten über die reiche Pracht ihrer Ausstattung zum Besten gibt, die die Interpreten unter den Spatzen längst von allen Dächern pfeifen. Sie hätten sich gefreut über einen Leser wie Michael Maar. Wo manch anderer in den fein möblierten Salons sich flezt, die mitunter kostbaren Gobelins an den Wänden bestaunt und mit wissendem Lächeln einem Kollegen am andern Ende der Tafel zuzwinkert, streicht Maar lieber auf eigene Faust durch die hinteren Räume.

Unbemerkt linst er in der Küche den Köchen über die Schulter, neugierig besonders das Gewürzbord im Blick, beobachtet wie´s gemacht wird, das opulente Mahl. Und ob´s gelingt oder nicht, entscheidet mitunter eine bloße Messerspitze. Auch in die undurchsichtigen Kellergewölbe treibt es ihn immer wieder, in entlegene Abstellkammern und auf spinnwebverhangene Dachböden voller Gerümpel und tanzender Staubflocken im Nachmittagslicht.

Was er auf diesen heimlichen Wegen aufgelesen und abgelauscht hat, all diese kleinen geheimnisvollen Trouvaillen, die er da aus seiner Trommel fischt, weisen über sich hinaus und entdecken dem aufmerksamen Betrachter gerne eben jene untergründigen Zusammenhänge, die im Besuchergedrängel oben in der bel etage gerade nicht zu bekommen sind.

Es ist gar nicht möglich, auf kleiner Fläche all die Fundsachen auszubreiten, die Maar aus den Bücher- und Lebenswelten Virginia Woolfs, Prousts, Nabokovs, Thomas Manns und anderer zusammengetragen hat. Proust und Nabokov sind es vor allem, die er immer wieder unter sein Vergrößerungsglas hält. Zunächst am ganz Handwerklich-Konkreten interessiert, handelt er - die Zimmersche (Falter-) Chronik in der Hand - von der gar nicht flatterhaften Schmetterlingsliebe dessen, der nicht nur das listenreiche Naturspiel der Mimikry auf sein Schreiben zu übertragen wußte. In besonderem Maße die präzise Beobachtungsgabe des Naturwissenschaftlers sollte Vladimir Nabokov, der die bloß phrasierte Bewegung verabscheute, zur ausgeklügelt-feingliedrigen Konstruktion seiner Romane verhelfen. Einer arabeskenhaften Leichtfüßigkeit wohlgemerkt, der man ihre raffinierte Choreographie nur Schritt für Schritt abschauen kann.

Einem solchen Falter mag Nabokov mehr als einmal nachgeschaut haben, einen Himmel im Blick, der immer auch - so weist Maar überzeugend nach - seine metaphysischen Dimensionen besaß. Jeder Seite ihres Mannes, so bekannte einst seine Frau Véra, sei das Wasserzeichen der ´anderen Welt´, des Jenseitigen eingeschrieben. In geheimer Verwandtschaft zu dessen Überlegungen über Zeit und Kausalität teilt Nabokov mit Arthur Schopenhauer zwar nicht die pessimistische Weltsicht, wohl aber denselben Metaphernvorrat. Von den Romanen der 30er und 40er Jahre an, von der "Einladung zur Enthauptung", dem "Sebastian Knight" über das "Bastardzeichen" und die "Lolita" noch bis zu den späten "Schwestern Vane" und den "Durchsichtigen Dingen" zwingt Nabokov dieses Jenseits, aus dem ihm, so glaubte er, der früh ermordete Vater die Feder geführt habe, ins Wort. Ob er dabei an das "Loch in der Welt" gedacht haben mag, in das der von ihm so bewunderte Gilbert Keith Chesterton sein unwiderstehliches Credo einzupassen verstand, bleibt nur Vermutung.

Offensichtlich dagegen erscheint das Augenzwinkern, mit dem der Lepidepterologe jenen französischen Kollegen bedachte, den er als einen der wenigen neben sich gelten ließ. Ein "Catteleyaschwärmer", eine "Sphinx d´Odette", gar die Spezies der "Madeleinea lolita" buchstabieren eine seiner zahlreichen Grußadressen an Marcel Proust.

Auch dem Verfasser der "Recherche" widmet Maar einige Arbeiten. Aus einer Briefstelle Prousts über den Tod des geliebten Chauffeurs Alfred Agostinelli etwa, der bekanntermaßen der Albertine seines Romans wesentliche Züge lieh, entnimmt Maar die Anspielung auf ein rätselhaftes früheres Modell. Ein anderer Essay über die frühe Reise Prousts nach dem Engadin, ein ominöser Zusatz im Gästebuch einer einsamen Berghütte, bietet Maar die Gelegenheit, das Buchstabenrätsel mit jener Ur-Albertine in Verbindung zu bringen.

Nicht nur von Proust und Nabokov ist aber die Rede. Hellsichtige Überlegungen gelten der Hölle des erblindeten Religionspädagogen John Hull, dem mit dem Augenlicht die Welt und irgendwann fast das eigene Ich abhanden zu kommen drohten. Einer Hölle, so zeigt Maar, der nicht unähnlich, in der Jan Philipp Reemtsma über einen Monat untergebracht war.

Verbindungslinien solcher Art deuten sich an zwischen den kleinen Fehlern, vor denen offenbar selbst die Großen nicht gefeit sind, wenn bei der Woolf plötzlich die Kleiderfarbe wechselt, bei Joyce eine Fliege durch eine Krawatte vertauscht wird oder bei Proust das blonde Haar seines Marcel sich unversehens schwarz verfärbt.

Überhaupt sind die zart gewebten Verweisungsbezüge hervorzuheben, die hinter all der Kleinteiligkeit und Vereinzelung den literarischen Kosmos ahnen lassen, in dem sich Maar heimisch fühlt und dem doch alles entspringt. Er schätzt die motivische Anbahnung eines Themas, die über Abfolge und Zusammenstellung der einzelnen Stücke entscheidet. Ob es, wie im Essay über Fabre, der Falter auf dem Handrücken eines Kindes ist, der sich mit umgeschlagener Seite im Eingang der nächsten Arbeit niederläßt, ob das Mondlicht jener geheimnisvollen Mondrunen aus dem Tolkienporträt, unter das er die späten Essays Thomas Manns rückt und das auf wundersame Weise auch zwischen den Wolken eines frühen Nabokov-Romans durchbricht, ob der Tod von Tolkiens Mutter, die genauso durch Mittelerde geistert wie die Mutter des kleinen Marcel durch das proustische Venedig. Es sind dergleichen ausgestreute Motive (und zahlreiche andere mehr), die all die pointierten Einzelbeobachtungen weit hinausheben über das Tagesgeschäft des Kritikers, hinauf in die geheimnisvolle Dachbodenwelt tanzender Buchstaben im Nachmittagslicht, wo all die wunderbaren Leser wohnen.

Titelbild

Michael Maar: Die falsche Madeleine. Sechzehn Aufsätze.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
136 Seiten, 17,40 EUR.
ISBN-10: 3518410709

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