Eine wunderbare Symbiose

Stanley Kubrick verfilmt Schnitzler

Von Timo KozlowskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Timo Kozlowski

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Inspired by Arthur Schnitzler's 'Traumnovelle'" - so steht es im Abspann von Stanley Kubricks neuestem (und letztem) Film: "Eyes Wide Shut". Eine Literaturverfilmung also. Normalerweise, so denkt man zunächst, wird das doch als Werbemittel eingesetzt: Der neue Grisham - eben noch auf der Bestsellerliste, jetzt im Box-Office! Kubricks filmisches Werk ist fast schon auf Literaturverfilmungen abonniert: Von Vladimir Nabokov brachte er als erster "Lolita" auf die Leinwand, er nahm sich Stephen Kings "The Shining" und Anthony Burgess' "Clockwork Orange" vor - und zuletzt eben auch Schnitzlers "Traumnovelle". Weshalb aber wird "Eyes Wide Shut" nicht als Literaturverfilmung in eben jenem Maße wahrgenommen?

Sicher, de mortuis nil nisi bene, und wenn Kubrick zum marketingtechnisch perfekten Zeitpunkt von der Bühne abgetreten ist, dann möchte keiner ihm den Ruhm an seinem letzten Werk streitig machen. Sicher, der Autor Kubrick steht in der Rangliste des Filmbusiness immer unter dem Regisseur Kubrick. Sicher, der Film heißt nun mal "Eyes Wide Shut" und nicht "Traumnovelle" oder 'Dream Story' oder so ähnlich. Ein Indikator dafür, daß Kubrick eben keine Literaturverfilmung im strengen Sinne gemacht hat. Derlei Versuche laufen ohnehin viel zu oft auf eine Literaturabfilmung hinaus. Aber eben dadurch, daß sich Kubrick von seiner Vorlage zunächst entfernt hat, hat er es geschafft, Schnitzlers Text adäquat auf die Leinwand zu übertragen.

Doch der Reihe nach. Schnitzler begann mit der Arbeit an der "Traumnovelle" 1907 und veröffentlichte sie 1926. Ort der Handlung ist Wien in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts. Ein Er-Erzähler berichtet in größtenteils sachlich-nüchternem Ton über den Arzt Fridolin und dessen Frau Albertine, die gemeinsam eine Tochter haben. Nach dem Besuch eines Maskenballes, in dessen Verlauf beide Ehepartner sich beinahe in amouröse Abenteuer verstricken, gesteht Albertine ihrem Mann, daß sie einmal bereitgewesen wäre, ihn mit einem anderen Mann zu betrügen. Obwohl rein physisch gesehen nichts geschehen war damals, treibt Fridolin dieses Geständnis zu der fixen Idee, den gedanklichen Seitensprung seiner Frau nun selber in die Tat umzusetzen. Doch in letzter Sekunde scheitert er in dieser Nacht, entweder an seiner mangelnden Courage oder den ehernen Gesetzen einer Geheimloge, deren maskierte Mitglieder obskuren erotischen Darstellungen beiwohnen. Dies alles ist bislang in nüchternem Ton geschildert worden. Doch als Fridolin in dieser Nacht heimkehrt, weckt er Albertine aus einem fürchterlichen Alptraum auf - fürchterlich für Albertine, weil sie ihn geträumt hat, fürchterlich für Fridolin, der dadurch erkennen muß, wie weit er und seine Frau sich schon voneinander entfernt haben. Gegen Ende des Traums dann auch für den Leser fürchterlich, weil dieses Ende in Schwulst und Pathos versinkt: "Ich aber fand dein Gebaren über alle Maßen töricht und sinnlos, [...] weil du aus Treue zu mir die Hand einer Fürstin ausgeschlagen, Foltern erduldet und nun hier heraufgewankt kamst, um einen furchtbaren Tod zu erleiden. [...] Da wünschte ich, du solltest doch wenigstens mein Lachen hören, gerade während man dich ans Kreuz schlüge." Am nächsten Tag gelangt Fridolin zu denselben Schauplätzen, die er in der Nacht besucht hat; wiederum ohne Albertine untreu werden zu können. Als er - spät in der Nacht - erneut heimkehrt und seine Frau schon schläft, beschließt er, ihr alles zu erzählen, was er erlebt hat, aber unter der Prämisse, es handle sich um einen Traum. Und wenn sie dann die "Nichtigkeit" seiner Erlebnisse erkannt habe, dann möchte er ihr gestehen, daß dieser Traum Realität ist. Doch die Realität holt ihn zuvor ein: Neben Albertines Kopf liegt auf seinem Kopfkissen die Maske, mit der er sich in der Nacht zuvor in die Geheimgesellschaft einzuschleichen versuchte - und so gesteht er alles. Am Ende ist dann die erwartete Besserung ausgeblieben, eine Entwicklung hat nicht stattgefunden, aber Fridolin und Albertine sind nun dazu in der Lage, ihre Isoliertheit voneinander bewußter wahrzunehmen.

Eigentlich kein Wunder, daß Kubrick jahrelang plante, die "Traumnovelle" zu verfilmen, da sie in denselben pessimistischen Tönen grundiert ist wie auch seine übriges Filmwerk. So hatte er ja in seiner Verfilmung von "Clockwork Orange" den optimistischen Schluß von Burgess' Roman im Film mit einem sehr dunklen Menschenbild versehen: Der Mensch könne sich nicht ändern und richte sich deshalb selbst zugunde. Zumindest in dieser Hinsicht mußte er bei der "Traumnovelle" bzw. "Eyes Wide Shut" wenig verändern: Er hat Szenerie und Personal vom Wien der 20er Jahre ins New York der End-90er verlegt und die beiden Hauptrollen mit Tom Cruise und Nicole Kidman prominent besetzt. Den Plot jedoch hat Kubrick bis fast zum Ende hin, von ein paar Kürzungen abgesehen, originalgetreu übernommen. Darin zeigt sich die feine Beobachtungsgabe Schnitzlers und die hohe Qualität der "Traumnovelle". Fast möchte man in Schnitzler und Kubrick zwei Brüder im Geiste erkennen, da sowohl Schnitzlers sachlicher Erzählton als auch Kubricks kühle und rationale Bildsprache beidesmal eine unwirkliche Stimmung schaffen, die immer wieder die Möglichkeit offenläßt, daß alles nur ein Traum gewesen sein könnte. Doch dann, unmittelbar bevor bei Schnitzler Friedolin alles gestehen wird, weicht Kubrick entscheidend von seiner Vorlage ab, indem er auf eine Figur zurückgreift, die in Schnitzlers Novelle nicht existiert und die gleich zu Beginn des Films kurz eingeführt wird. Diese Figur, dargestellt von dem US-Regisseur Sydney Pollack, beginnt Bill den Film zu erklären. Genauer gesagt: Diese Figur entpuppt sich als eine Art Strippenzieher, mit deren Hilfe Kubrick versucht, die logischen Löcher im Plot zu stopfen, die er zuvor noch getreu von Schnitzler übernommen hat. Dies ist insofern bemerkenswert, weil Kubrick dadurch seiner bis zu diesem Zeitpunkt brillianten Konzeption widerspricht, indem er ganz bewußt mit der zuvor aufgebauten Stimmung bricht. Von einem postmodernen Standpunkt aus kann man hier ein selbstreflexives Vorgehen erkennen: Der Film, der seine Vorlage (und damit auch sich selbst) erklärt.

Allerdings trifft "erklären" nicht vollkommen zu. Es legt nahe, daß von außen auf die Geschichte geblickt werde, aber dies trifft auf die von Pollack dargestellte Figur nicht zu; sie ist im Gegenteil sogar direkt in die Handlung integriert, so daß im Endeffekt einige innerfiktionale Gegebenheiten geklärt werden, die für einen Filmemacher der heutigen Zeit als Fehler gelten. Womöglich wollte Kubrick Schnitzlers weiße Stellen in der Geschichte dazu nutzen, um auf die mittlerweile äußerst populäre Verschwörungstheoriewelle im Akte X-Stil abzuheben.

Letztendlich hat Kubrick durch seine modernisierte Szenerie gezeigt, daß Schnitzlers Novelle eine Thematik aufgegriffen und so genau beleuchtet hat, daß das Geschilderte über den Zeitraum seiner Entstehung hinweg Gültigkeit besitzt. Kubricks "Eyes Wide Shut" ist somit eine der wenigen kongenialen Verfilmungen. Bemerkenswert ist vor allem, daß Kubrick es geschafft hat, sinnvoll zu kürzen und mit den ästhetischen Mitteln des Erzählkinos der 80er (man beachte das Dekor) zu arbeiten, ohne Schnitzlers "Traumnovelle" Gewalt anzutun. "Eyes Wide Shut" funktioniert auch als eigenständiger Film, zweifellos, aber kennt man die "Traumnovelle", dann sieht man im Film neue Bedeutungsebenen angelegt. Eine wunderbare Symbiose.

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Stanley Kubrick / Frederic Raphael / Arthur Schnitzler: Eyes Wide Shut. Das Drehbuch / Traumnovelle. Die Novelle.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
87 Seiten, 8,60 EUR.
ISBN-10: 3596143691

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