Thomas Mann und andere Patienten

Eine Aufsatzsammlung studiert "Literatur und Krankheit im fin-de-siècle"

Von Melanie OttenbreitRSS-Newsfeed neuer Artikel von Melanie Ottenbreit

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Davoser Literaturtage stehen traditionell im Zeichen von Literatur und Medizin. Bereits 1998, als das Motto "Vom ,Zauberberg' zum ,Doktor Faustus'" hieß, galt das Augenmerk den Leiden des Meisters. Zwei Jahre später nahmen sich Philologen und Mediziner der "Literatur und Krankheit im fin-de-siècle" an - den Beschwerden Thomas Manns im besonderen und denen der Epoche im allgemeinen.

Die Diagnosen sind nachzulesen im 26. Band der Thomas-Mann-Studien, die wie gewohnt die Davoser Vorträge gedruckt versammelt. Zehn Aufsätze sind es insgesamt. Fast schon obligatorisch hat Helmut Koopmann einen Artikel - zu "Krankheiten der Jahrhundertwende im Frühwerk Thomas Manns" - beigesteuert. Doch längst nicht alle sind so kurzweilig zu lesen wie der von Inge Jens. Die Herausgeberin der späten, leidgetränkten Tagebücher Thomas Manns ist ganz in ihrem Element, wenn sie untersucht, wie sehr das Krank- oder Anderssein der literarischen Figuren diese nicht nur stigmatisiert, sondern auch zu etwas Besonderem macht: "Auszeichnung durch Krankheit". Dies Motiv verfolgt Jens mit Rekurs auf Nietzsche und Thomas Manns Schiller-Studie "Schwere Stunde" exemplarisch.

Der Künstler schwächelt im Mann'schen Werk und gleicht darin dem Autor. Da wiegt es um so schwerer, dieser Gebrechlichkeit ein Kunstwerk abzutrotzen, "so, wie es Schiller getan hat: Schiller, so wie der junge Thomas Mann ihn sich vorgestellt hat; Schiller, von der Krankheit des Fin-de-siècle, der Schwindsucht, niedergeworfen; Schiller, der Andere, gezeichnet von körperlichen Leiden, die ihn schon als Dreißigjähriger ernst und reif gemacht haben; eine Figur, die sich unter den Gesunden, den Krulls und Krögers [...] wie ein strenger Magister ausnimmt: leidgeprüft, würdig und couragiert, stolz und demütig zugleich."

Peter Pütz und Christian Virchow, Germanist der eine, der andere Internist, widmen sich der Institution des Sanatoriums. Während der Literaturwissenschaftler die Idee vom "Sanatorium als Purgatorium" variiert und die Heilanstalt mit dem Läuterungsberg vergleicht, um die "Kluft zwischen beiden zu ergründen", ist der Arzt den verschiedenen Sanatorien auf der Spur, die im Œuvre des Autors erwähnt sind oder vom Patienten Thomas Mann aufgesucht wurden - mit dem Zentralmassiv "Berghof".

Zu den schönsten Neologismen im Gesamtwerk Thomas Manns zählt zweifelsohne die "Quecksilberzigarre". Die resolute Oberin Adriatica von Mylendonk verkauft sie dem bettlägerigen Hans Castorp, was dessen Aufnahme in den "Berghof" und die Sphäre der "Hiesigen" besiegelt. Eine Initiation, die ihn zum Kranken "adelt". Thomas Sprecher hat die Adriatica-Figur, die mittels Quecksilber gleichsam die verstreichende Zeit und das Leben an sich misst, mit erhellenden Ergebnissen studiert, wobei er ausgiebig aus Wolfgang Schneiders hervorragender Untersuchung der Figurendarstellungen Thomas Manns schöpft. Die Mylendonk charakterisiert Sprecher als "Hadesfigur", als Abbild des "gierigen Todes". Sie bildet den "Gegenpol" zu Madame Chauchat. Adriatica ist keine rein realistische Krankenschwester, keine bösartige "Karikatur", sondern "Kunst-Figur". Das setzt die zeitgenössischen Beschwerden von Ärzten und Krankenschwestern über die "gehässige" und ungerechte Zeichnung der Oberin ins Verhältnis.

Die ertragreiche Aufsatzsammlung behält ihren Fixstern Thomas Mann fest im Blick. Bei allem Interesse aber für dessen Werk und Figuren rückt sie den Dichter auch in die Epoche ein, von der Thomas Mann nicht unbeeinflusst blieb: Das moribunde und fiebrige Fin-de-siècle mit seinen Krankheitstrends wie der Neurasthenie und der Volksseuche Syphillis, die Nietzsche, den Fixstern des Dichters und Hypochonders Thomas Mann, dahinraffte.

Titelbild

Thomas Sprecher: Literatur und Krankheit im Fin-de-siecle (1890-1914). Thomas Mann im europäischen Kontext.
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 2002.
284 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-10: 3465031636

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