Erzählen im Eis

Jørn Riel beschreibt in "Zu viel Glück auf einmal" das Lebensgefühl der Robbenfänger

Von Martin ZähringerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Zähringer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die 16 Erzähl-Stücke im neuen Buch von Joern Riel aus Dänemark berichten vom einsamen Leben der meist skandinavischen Jäger im Nordosten Grönlands, abseits der bewohnten Küsten und auch ein wenig abseits der bekannten Erzählgestade. Abseits der Zivilisation? Nicht ganz. Zwar fehlen die Errungenschaften des westlichen Way-of-life, und leider auch die einheimische Kultur der Inuit. Über die schreibt Riel auch, in anderen Büchern. Trotzdem - oder gerade deshalb - entfaltet Riels Erzählpersonal, immerhin noch oberhalb des Polarkreises, eine unermüdliche Energie.

Eine Hauptattraktion dieses arktischen Kulturbetriebes sind "Skroener". Das sind Geschichten im ständigen Ausbau, Stories-in-progress, die sich die Pelztierfänger des KGH (Königlich Grönländischer Handel) erzählen und die oft jahrelang kursieren. Worum es üblicherweise geht, sind genau diese stetigen und absurden Versuche, in der Einsamkeit einer reinen Männergesellschaft der kahlen Lebensweise etwas Würde abzugewinnen. Worauf es bei einer "Skroene" möglicherweise ankommt, erfahren wir vom Erzähler der Erzähler: "Der Mann hatte etwas Vertrauen erweckendes, wenn er erzählte. Jeder konnte hören, dass es alles Lügen waren, aber er erzählte die Geschichte überzeugend und mit Begeisterung, dass man den Eindruck hatte, er glaubte jedenfalls selbst daran."

Die hier so fabelhaft erzählenden und pointiert wiedererzählten Pelztierjäger wurden in den 40er und 50er Jahren vom dänischen KGH an die Nordostküste verfrachtet. Sie sollten als Staatsbedienstete den kolonialen Anspruch der Dänen aufrecht erhalten und den Fellhandel mit nachgefragter Polarware bereichern. Geeignet sind natürlich Männer, die von Europa die Nase voll haben, Outsider und Querulanten jeder Couleur. Da hausen sie nun, und wenn die großartige Natur im Schleier der Polarnacht für längere Zeit entfleucht, dann kommt die Zeit der Skroener. "Qaqamut" oder Besuchsreise, heisst es dann. Das erste ist (nach Riel) ein grönländischer Ausdruck für den Polarkoller, letzteres ein sicheres Mittel, um seine ernsthafteren Erscheinungsformen zu vertreiben, und beides bildet wiederum immer wieder den Grundstock für eine Skroene. "Qaqamut" - man geht auf Sonnenfang oder schießt den Mond ab, das sind noch mildere Formen, obwohl diese Tätigkeiten manchmal Wochen in Anspruch nehmen, und die Munition ist dann weg. Wenn es ernsthafter wird, kommt es schon mal soweit, dass das falsche Schwein im wörtlichsten Sinn geschlachtet wird, da wird's zu Zeiten kannibalisch. Bei erotischen Entzugserscheinungen wird der Liebesleidende ohne Hosen in Richtung Südwest geschickt, zur heilenden Konfrontation der heißen Fieber mit der kalten Wirklichkeit. Im Südwesten nämlich, auf der anderen Seite Grönlands, wären sie gewesen, die entgegenkommenden Frauen, die grönländischen, aber dazwischen ist das Inlandeis. In Riels Fabelwelt treten diesmal weder echte noch erträumte Frauen auf, es überraschen divergente Ersatzfiguren: eine Königsboa, die Hündin Miss Dietrich, ein Schwein, ein Hahn. Ebensowenig aber gibt es Beamte, Politiker, Polizisten, Arbeitgeber, Steuereintreiber oder sonstige vermeintliche Big Men der sozialen Hierarchie. Nur ein verbannter Abgesandter der Inneren Mission, der jedoch in seinem hinterlistigen Feldzug gegen die allseits entwickelte Schnapsbrennerei unterliegt und selbst in die Luft fliegt. Dem wurde allerdings etwas nachgeholfen, denn die ansonsten unendliche Toleranz der Männer im Eis hat auch ihre Grenzen.

Anarchisch ist diese abgeschiedene Fängerwelt. In den Worten des Erzählers: "Die Fänger in Nordostgrönland hatten nie am Gang der Welt teilgenommen ... Sie lebten als anständige, freie Menschen und erkannten, ohne sich selbst darüber im Klaren zu sein, instinktiv das biologische Erbe des Homo sapiens". Nun ja, in Riels Erzähluniversum herrscht durchaus eine Art andropologischer Auszeit, Männerfreundschaften, abgeklärte Ruhe im Glanz der ganz großen Natur, mit zeitweilig belebenden Störungen, lächelnd, wissend, spannend erzählt, und vor allem witzig! Aber sieht man da nicht auch ein großes sardonisches Grinsen? Und irgendwo sind die Nordostmänner ja einmal hergekommen, diese "Quallunat" (Die Fremden) der arktischen Erzählwelt.

In regelmäßigen Abständen kommen Aquavit, Obst und Kautabak, neue Gesichter und Nachrichten mit dem handelsrhytmisch anlaufenden Frachter Veslemari, dessen Zeittakt auch die Erzählabläufe strukturiert, so wie er die tageweit auseinanderliegenden Posten der Fänger miteinander verknüpft. Nicht umsonst ist es auch oft genug der honorige Skipper Olsen, der mittels einfachen Zuhörens, Hinschauens und klarer Rede die verschrobenen Wahrnehmungen der weißen Barbaren wieder etwas zurechtrücken muss. Wilde Dänen also, wild erzählt. Nicht ganz. Die Grundressource ist schon arktisch, das ist Riels Jagdbeute, die er in Dänemark abliefert, von wo er sich dann meist schnell wieder verabschiedet. Aber sehr oft nähert sich seine Erzählweise selbst ganz verdächtig jenen zivilisierten, europäischen Genres, wie etwa Kurzgeschichte oder Novelle. Alles arktisch temperiert, versteht sich, aber eben doch sehr zivilisiert. Die erzählerischen Temperaturunterschiede wirken wohltuend auf die Komposition des Bandes ein, der aus zwei frühen dänischen Sammlungen zusammengestellt und neu und gut ins Deutsche übersetzt wurde. Es sind witzige Geschichten, diese "Skroener", locker und leicht zu lesen. Anspruchsvolle Unterhaltung, die vielleicht auch neugierig auf andere Stimmen aus der Arktis macht.

Titelbild

Jørn Riel: Zu viel Glück auf einmal.
Übersetzt aus dem Dänischen von Wolfgang Recknagel.
Unionsverlag, Zürich 2003.
253 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3293003117

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