War die "Gruppe 47" antisemitisch?

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Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Eine "Gruppe 47" hat es nie gegeben. Aber was man fälschlicherweise als ,,Gruppe" bezeichnet, das gab es schon, und es spielt in der Geschichte der deutschen Literatur nach 1945 eine ungewöhnliche Rolle.

Die "Gruppe 47" - das waren unter diesem Namen einmal jährlich stattfindende Schriftstellertreffen, die man ,,Tagungen" nannte. Es kamen, zumal in den letzten Jahren, siebzig oder achtzig oder noch mehr deutschsprachige Autoren, von denen etwa zwanzig bis fünfundzwanzig neue Prosastücke oder Gedichte vorlasen. Nach jeder Lesung wurde das Gebotene sofort diskutiert, jeder Anwesende konnte sich zu dem Text äußern, doch redeten am häufigsten die Berufskritiker. Der Autor musste die Kritik unwidersprochen hinnehmen.

Kann man von einer Organisation sprechen? Wohl nicht, denn die "Gruppe 47" hatte weder eine Satzung noch einen Vorstand, sie war kein Verband, kein Verein, kein Klub und keine Gesellschaft. Eine Mitgliederliste gab es nicht. Neugierige Interviewer wurden von dem Gründer und Chef der "Gruppe", dem Romancier und Journalisten Hans Werner Richter, freundlich belehrt: "Wer Mitglied ist, weiß nur ich, aber ich sage es niemandem."

Tatsächlich betrug der feste Stamm höchstens die Hälfte der Teilnehmer, einschließlich der Kritiker und der (nicht wenigen) Berichterstatter von der Presse und vom Rundfunk. Die anderen waren ein- oder zweimal dabei und erschienen nicht wieder: teils, weil sie nicht mehr eingeladen wurden, teils, weil sie den Spaß an der Sache verloren hatten. Das Wort ,,Gruppe" ist also missverständlich, denn es suggeriert eine literarische Richtung, eine Schule oder Strömung. Davon konnte nie die Rede sein. Besser wäre es gewesen, man hätte einen Namen wie "Forum 47" gewählt oder "Studio 47" oder "Arena 47".

Alles in allem war diese "Gruppe 47" kein Phänomen der Literatur, vielmehr ein Phänomen des literarischen Lebens in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie war ein Sammelbecken, ein drei Tage im Jahr existierendes Zentrum der deutschsprachigen Literatur. Sie war eine dringend benötigte Probebühne und eine alljährliche Modenschau - nützlich sowohl für die Autoren als auch für die Verleger. Ihren Ruf und Ruhm verdankte die "Gruppe" einer Anzahl von Schriftstellern, die man in den fünfziger Jahren noch wenig oder überhaupt nicht kannte, die aber nach ihrer Lesung auf einer "Gruppen"-Tagung rasch zu den Erfolgreichsten in Deutschland gehörten - so Heinrich Böll, Ingeborg Bachmann, Günter Eich, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Peter Weiss, Martin Walser und viele andere. Dass die Tagungen zwanzig Jahre allerlei Krisen überwinden und weiterhin stattfinden konnten, war Richters Geschick und Energie zu verdanken. Aber auch einem anderen Umstand: Richter weigerte sich hartnäckig, die "Gruppe 47" auf irgendwelche Thesen oder gar auf ein Programm festzulegen.

Nun hörte man in letzter Zeit, in der "Gruppe 47" habe es antisemitische Tendenzen gegeben, es seien mehr oder weniger deutliche antisemitische Vorstellungen und Klischees zum Vorschein gekommen. Ich bin, einst von den nationalsozialistischen Behörden deportiert, 1958 nach Deutschland zurückgekehrt und war noch im selben Jahr bei der Tagung der "Gruppe 47" in Großholzleute im Allgäu als Kritiker dabei - und dann bei allen Tagungen bis zur letzten, im Oktober 1967, im Gasthaus "Pulvermühle" im Frankenland.

Meine Biographie hat es mit sich gebracht, dass ich für antisemitische Regungen, und seien es auch nur vorsichtige Anspielungen, besonders empfänglich bin.

Dickhäutigkeit wurde mir in dieser Materie noch nie vorgeworfen, wohl aber gelegentlich - und, wie ich meine, sehr zu Unrecht - Überempfindlichkeit.

Wie auch immer: Ich habe während der Tagungen nicht die geringsten antisemitischen Äußerungen wahrgenommen. Es haben in diesen Jahren nicht wenige Autoren jüdischer Herkunft an der "Gruppe 47" teilgenommen: so Peter Weiss, Ilse Aichinger, Wolfgang Hildesheimer, Erich Fried, Günter Kunert, Jakov Lind, Hans Mayer und andere. Ich habe mich natürlich mit allen in den vielen Tagungspausen unterhalten, oft war - wen könnte dies wundern? - von Juden die Rede. Ich kann mich nicht erinnern, dass sich einer dieser Kollegen über Antisemitisches auf den Tagungen der "Gruppe 47" je beklagt hätte.

Es stimmt aber, dass man auf diesen Tagungen niemals über Juden und den Holocaust diskutiert hat. Es wurde auch nicht über Hitler und den verlorenen Krieg, über die Teilung Deutschlands oder über den Kommunismus debattiert. Das hatte einen einfachen Grund: Diskussionen über allgemeine, zumal über politische und zeitgeschichtliche Themen waren nicht üblich, ja sogar verboten. Man durfte nur über den gerade vorgelesenen literarischen Text sprechen, man hatte ganz eng am Gegenstand zu bleiben. Alle hielten sich an diese Regel.

Es wird viel Unsinn über die "Gruppe 47" verbreitet. Warum? Vor allem, weil die Germanisten und Journalisten, die sich über dieses Thema verbreiten, meist keine Ahnung von den Fakten haben und sich nicht die Mühe geben, die noch lebenden Zeugen (noch sind es nicht wenige) zu befragen. Sie schreiben über die "Gruppe 47", als sei ihre Zeit von uns so weit entfernt wie der Siebenjährige Krieg.

Anmerkung der Redaktion: Der Artikel erschien zuerst am 13.4.2OO3 in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" im Rahmen der Serie "Fragen Sie Reich-Ranicki". Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung.