Von der Möglichkeit der Liebe

Mit Michel Houellebecq ins dritte Jahrtausend

Von Thomas BollwerkRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Bollwerk

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn man zur Zeit einem Autor Omnipräsenz in den Medien bescheinigen kann, dann dem Franzosen Michel Houellebecq. Sein zweiter Roman "Elementarteilchen" ist Anfang September auf Deutsch erschienen und hat eine Fülle ungewohnt euphorischer Rezensionen im deutschen Feuilleton hervorgerufen. In Frankreich hatte es das Buch ungleich schwerer: Zuerst wurde sein Autor von den Kollegen der Literaturzeitschrift "Perpendiculaire" wegen vermeintlicher Verbreitung faschistoider Utopien aus der Redaktion ausgeschlossen, dann rief der französische Schuldirektorenverband zum Boykott des Romans auf; und schließlich wurden die "Particules élémentaires" auch noch Gegenstand einer gerichtlichen Auseinandersetzung, da sich die Betreiber des Selbsterfahrungs-Camps "Der Ort des Möglichen" nicht mit dessen Darstellung im Buch abfinden konnten. Deshalb heißt es in späteren Auflagen "Der Ort der Wandlung". In Teilen des französischen Feuilletons, das sich gar dazu verstieg, die Diskussion um den Roman als "größte Literaturdebatte seit Menschengedenken" zu deklarieren, wurde Houellebecq wegen der Attacken (seiner Figuren!) gegen 68er, Feministinnen, Homosexuelle und Schwarze als rechter Reaktionär und Chauvinist diffamiert. Inzwischen wird allerdings auch in Frankreich vermehrt der literarische Wert des Romans diskutiert, zum Beispiel in der Juni-Ausgabe von "L`Atelier du Roman", in der sich Autorenkollegen, Literaturkritiker und Philosophen vornehmlich mit Fragen des Erzählstils der "Elementarteilchen" auseinandersetzen.

Das auffälligste Stilelement dieses Romans ist die konsequente Vermeidung eines durchgängigen Stils durch die Verwendung heterogener Textsorten und Sprachregister. Sie ist dadurch motiviert, daß die "glaubhafte Rekonstruierung auf der Grundlage lückenhafter Erinnerungen", als die diese "erfundene Geschichte" präsentiert wird, aufgezeichnet wird von einem Autorenkollektiv im Jahr 2080. Geschildert wird die (nicht zuletzt intellektuelle, Lektüreerlebnisse akribisch aufzählende) Biographie des Molekularbiologen Michel Djerzinski, dessen Verdienst es gewesen sei, durch die Abschaffung des geschlechtlich differenzierten, sterblichen Menschen "die Bedingungen zur Möglichkeit der Liebe wiederherzustellen".

Dieses Science-Fiction-Element des Textes, das auf gut einem Dutzend Seiten "Vor"- und "Nachrede" ausgebreitet wird (und von dem Houellebecq sagt, "man hätte es genauso gut weglassen können"), läßt vermuten, die "Elementarteilchen" stünden in der Tradition utopischer Romane wie etwa Aldous Huxleys "Brave New World". Tatsächlich handelt es sich aber um ein in der Gegenwart fest verankertes Buch, dessen Handlung hauptsächlich in den Jahren 1998 und 1999 spielt. Aus dieser, "unserer" Perspektive und auf der Grundlage persönlicher Notizen Michel Djerzinskis wird entlang der Lebensläufe von Michel, geboren 1958, und seinem zwei Jahre älteren Halbbruder Bruno ein zeitdiagnostisches Panorama der letzten vier Jahrzehnte des ausgehenden Jahrhunderts entworfen. Die beiden Brüder sind Opfer ihrer egoistischen, pseudo-liberalen Mutter, die sich 1960 nach Kalifornien absetzt, um in einer Prä-Hippie-Kommune zu leben. Michel wächst bei seiner Großmutter auf, die ihn liebt, das hochintelligente Kind aber nicht fördern kann; Bruno wird ins Internat gesteckt, wo er die perfidesten Schikanen ertragen muß.

Houellebecq wechselt hier zwischen messerscharfer soziologischer Analyse des Zeitgeistes und Analogien aus so unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen wie der Literaturgeschichte, der Philosophie, der Physik und vor allem der Biologie. Über weite Strecken geriert sich das Buch als Thesenroman, was funktioniert, solange die Reflexionen der Protagonisten, die nicht immer von denen der anonymen Erzähler zu trennen sind, wiedergegeben werden. Abstriche machen muß man in den Dialogszenen, die oft seltsam leblos wirken, da die Sprechenden zu Stichwortgebern degradiert werden oder in austauschbares Dozieren geraten. Als Beispiel dafür mag die Diskussion zwischen Michel und Bruno über die Bedeutung von Aldous Huxley gelten. Nicht von ungefähr legt Norbert Niemann in der "Zeit" in seiner ansonsten vorzüglichen Rezension des Buches Bruno Sätze in den Mund, die eigentlich von Michel stammen: Es sind die nachdenklich machenden, oft provokanten Ideen und nicht der Fortgang der Handlung, die den Roman bestimmen. Es gibt lange Passagen von klinischer Sterilität, die man eher einem Lehrbuch als einem Roman zuordnen möchte, aber auch poetische Passagen, die von großer Empathie mit den Protagonisten zeugen. Oft dient sarkastischer Witz dazu, die Verbitterung der Figuren erträglicher zu machen.

"Das verlorene Reich", so der Titel des ersten Teils, ist natürlich das Reich der Kindheit und der Unschuld, die Michel, 10jährig, verliert, als er durch eine Tiersendung die Darwinsche Lektion vom Triumph des Stärkeren begreift: "Michel bebte vor Empörung und spürte auch dabei, wie in ihm eine unerschütterliche Überzeugung heranreifte: Im ganzen gesehen war die ungezähmte Natur nichts anderes als eine ekelhafte Schweinerei; im ganzen gesehen rechtfertigte die ungezähmte Natur eine totale Zerstörung, einen universellen Holocaust - und die Aufgabe des Menschen auf der Erde bestand vermutlich darin, diesen Holocaust durchzuführen." Für Bruno hingegen ist das Schlüsselerlebnis seiner Kindheit die Zurückweisung seines ersten, schüchternen Annäherungsversuches an eine Mitschülerin.

Ausgehend von der Schilderung dieser frühen Kindheitsprägungen entwickelt Houellebecq die Lebensläufe der Brüder wie in einer entwicklungspsychologischen Fallstudie: der Konditionierung folgt der verzweifelte, vielleicht vergebliche Weg, ihr zu entkommen. Michel wählt die asketische Forscherkarriere, die Einsamkeit und den fast völligen Verzicht auf Sexualität. Schon früh erkennt er: "Er würde die menschlichen Regungen nur durchqueren, manchmal würden sie ihm sehr nahe kommen; andere Menschen würden das Glück oder die Verzweiflung kennen lernen; all das würde ihn niemals wirklich betreffen oder erreichen." Bruno hingegen scheint dazu verdammt, sein Leben lang seinen sexuellen Obsessionen hinterherzulaufen, um die narzißtische Kränkung seiner Kindheit wettzumachen. Die "sexuelle Befreiung" der späten 60er eignet sich optimal, die Nachfrage des Begehrens durch eine Steigerung des Angebots in immer neue Höhen zu schrauben.

Hier wird die Grundthese von Houellebecqs Debutroman "Ausweitung der Kampfzone" wieder aufgenommen: dem gnadenlosen Kampf in der "freien Wirtschaft" entspricht der in der "freien Liebe" oder, wie es in den "Elementarteilchen" heißt: "Snoop Doggy Dog hatte weniger Kohle als Bill Gates, aber bei ihm kriegten die Mädchen leichter feuchte Schenkel. Zwei Parameter, mehr nicht." Bruno findet seine Befriedigung weder bei Prostituierten noch in Swinger-Clubs. Er heiratet, denn er hat "die Nase voll vom Wichsen". Doch auch die Geburt eines Sohnes und der gemeinsame Lehrerberuf bringen ihn seiner Frau nicht wirklich nahe. Die Scheidung folgt mit derselben scheinbaren Determiniertheit wie alles in seinem Leben, und er muß sich darauf beschränken, seine sexuellen Phantasien auf seine Schülerinnen zu projizieren. Als er sich eines Tages vor einer Schülerin entblößt, kommt er in psychiatrische Behandlung und wird zwangsversetzt. Am "Ort der Wandlung", dem besagten Selbsterfahrungs-Camp, das mit beißender Ironie dargestellt wird, lernt er Christiane kennen und erlebt als schon alternder Mann doch noch so etwas wie die wahre Liebe. Doch als Christiane nach einem Unfall auf den Rollstuhl angewiesen ist, zögert er, ihr beizustehen. Christiane begeht Selbstmord, Bruno begibt sich freiwillig wieder in die Psychiatrie.

Derweil entwickelt Michel seine These, daß die geschlechtliche Differenzierung der Menschheit in Mann und Frau und der mit der Fortpflanzung verknüpfte Sexualtrieb die Wurzel alles menschlichen Leids sei - "seit mehreren Jahrhunderten erfüllten die Männer offensichtlich so gut wie keinen Zweck mehr. Um ihrer Langeweile zu entgehen, spielten sie manchmal eine Partie Tennis, was noch das kleinere Übel war; aber manchmal hielten sie es auch für nötig, die Geschichte voranzutreiben, das heißt im wesentlichen, Revolutionen und Kriege hervorzurufen. Außer dem absurden Leid, das Revolutionen und Kriege erzeugten, zerstörten diese das Beste aus der Vergangenheit und zwangen die Menschen, reinen Tisch zu machen, um etwas Neues aufzubauen." Die Triade aus Gewalt, Kapitalismus und Sex als "Prinzip narzißtischer Unterscheidung" zu zerstören, das ist von nun an das Forschungsinteresse, das Michel antreibt. Nach einem Wiedersehen mit seiner Jugendfreundin Annabelle erlebt er doch noch eine beglückende Partnerschaft. Doch just in dem Moment, als Annabelle schwanger wird, beenden auch hier Krankheit und Selbstmord jäh diese letzte zwischenmenschliche Bindung. Um eine weitere Illusion ärmer, wendet sich Michel wieder seinen Forschungen zu und findet schließlich die Möglichkeit der unendlichen zellularen Autopoiesis. Nach Vollendung seines Lebenswerks begeht er im Jahr 2009 Selbstmord. In der "Nachrede" wird rekapituliert, wie 2021 das erste geschlechtslose, unsterbliche Wesen geklont wird und die Menschheit auszusterben beginnt.

Die Frage, ob Houellebecq mit diesem Romanende beabsichtigt hat, eine negative Utopie zu entwerfen, oder ob er tatsächlich mit der Möglichkeit gentechnischer Manipulationen liebäugelt, ist genauso wenig zu beantworten wie die Frage nach der Distanz zu seinen Protagonisten. Im Zusammenhang mit der "Sloterdijk-Debatte" ist aber ein Punkt interessant: Die (fiktionsimmanente) Rechtfertigung gegenüber dem Vorwurf, durch die Vereinheitlichung des genetischen Codes sei ein grundlegendes Element der menschlichen Persönlichkeit ausgelöscht, bedient sich desselben Arguments wie der Karlsruher Philosoph: der Verweis auf das Beispiel eineiiger Zwillinge, "die trotz einer in allen Einzelheiten identischen Erbmasse durch ihren Lebensweg völlig eigenständige Persönlichkeiten entwickeln", soll auch hier ethische Bedenken entkräften.

Von den vier Hauptfiguren begehen drei Selbstmord, eine landet in der Psychiatrie. Trotzdem sind die "Elementarteilchen" kein nihilistisches Buch, denn sie enthalten auch eine positive Utopie. Und die liegt - hier ist Houellebecq wertkonservativ im besten Sinne des Wortes - in der Moral und in der Liebe. Wenn es schon im sechsten Kapitel des ersten Teils heißt, es "ließe sich behaupten, daß eine Gesellschaft, die von den reinen Prinzipien der universellen Moral geleitet wird, ebenso lange besteht wie die Welt", dann wird der Vision des geklonten Menschen eine Existenzform gegenübergestellt, der man sich zumindest annähern kann. Diese positive Utopie ist auch anderen Episoden des Romans eingeschrieben, nicht zuletzt den beiden Liebesgeschichten, die gerade durch ihre Unzulänglichkeiten so ergreifen. Noch hat die "Kampfzone" sich nicht in alle Bereiche menschlichen Lebens ausgeweitet: "Mitten in der großen natürlichen Barbarei ist es den Menschen manchmal (wenn auch selten) gelungen, kleine, warme, von der Liebe besonnte Plätze zu schaffen. Kleine, abgekapselte reservierte Bereiche, in denen Intersubjektivität und Liebe herrschten."

Titelbild

Michel Houellebecq: Elementarteilchen. Roman. Aus dem Französischen von Uli Wittmann.
DuMont Buchverlag, Köln 1999.
420 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3770148797

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