Ungewöhnliche Auf-Sichten

Dirk Laubner fotografiert Berlin von oben

Von Michael GriskoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Grisko

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Blick von oben ist eine privilegierte Perspektive. Man erlebt Räume, sieht Achsen, erkennt Strukturen. Zudem ist es eine ungewöhnliche Perspektive, denn jeder Standpunkt jenseits der Augenhöhe ist mit Arbeit verbunden. Auch hat nicht jede Stadt einen Panoramabalkon am Wolkenkratzer oder ein sich drehendes Café am Fernsehturm. Zwar bietet Berlin beide Möglichkeiten, doch ist der direkte Blick von oben, den uns der erfahrene Luftfotograf Dirk Laubner und sein Co-Autor Richard Schneider in ihrem neuen Buch präsentieren, eine Aussicht der besonderen Art.

Dies liegt nicht nur an den aktuellen Aufnahmen, die den Status Quo der Bundeshauptstadt zu Beginn des 21. Jahrhunderts dokumentieren, sondern vor allem an deren Dialog mit den Fotografien aus vergangenen Zeiten. Knapp 100 Aufnahmen aus vergangenen Tagen stehen also ebenso vielen Aufnahmen von heute gegenüber - nicht immer exakt der gleiche Winkel, aber doch annähernd der gleiche Ausschnitt. Unterschiedlich sind die historischen Daten der Aufnahmen, die von den 20er-Jahren bis in die frühen 90er-Jahre reichen. Topografische Schwerpunkte bilden die Bereiche um den Reichstag, den Potsdamer Platz, um das alte Schloss, den Alexanderplatz und das Messegelände. Gleichwohl finden sich aber auch weitere zahlreiche Bauten und Plätze - so etwa der Flughafen Tempelhof, das Areal der Gropiusstadt oder die hufeisenförmig angelegte Wohnanlage in Briz.

Auf den ersten Blick dokumentiert das im Quer-, also Panoramaformat, angelegte Buch eine für Berlin, für eine Großstadt überhaupt, nicht ungewöhnliche Dualität: Kontinuität und Wandel. Deutlich wird die Kontinuität vor allem in den um die Jahrhundertwende und im 18. Jahrhundert angelegten Achsen, die die Stadt noch heute nachhaltig bestimmen. Während der Krieg vor allem um den Alexanderplatz, den Potsdamer Platz, den Anhalter Bahnhof, den Schlossplatz und den Bahnhof Zoo die prominentesten städtebaulichen Veränderungen nach sich zog und damit - neben den zum Glück nie vollständig realisierten Plänen der Nationalsozialisten - eine der prägendsten Zäsuren im 20. Jahrhundert markierte, sind vor allem die nun knapp 15 Jahre seit dem Mauerfall zu einer einzigartigen Zeit des Wandels, des Auf- und Neubaus in Berlin geworden, die die Fotografien eindrucksvoll nachvollziehbar werden lassen.

Und dies gilt nicht nur für die vermeintlichen Vorzeigeprojekte: Der Potsdamer Platz, der von einer öden, von einzelnen Häusern gesäumten Brachlandschaft zum postmodernen Refugium internationaler Architektur avancierte, oder den Spreebogen und den Reichstag, die ebenfalls vom sperrgürtelstreifendurchzogenen Sperrgebiet zum neuen Zentrum der Macht ausgebaut wurden und werden. Auch die Straße "Unter den Linden" und die Vorzeige-Einkaufsmeile "Friedrichsstraße" verändern innerhalb kürzester Zeit ihr Gesicht und damit ihren urbanen Charakter. Zumal bei den neuen Bundestagsbauten wird erst von oben betrachtet die Gesamtanlage im Spreebogen deutlich. Ebenso wird erst aus dieser Perspektive die enorme Verdichtung der Häuser um den Gendarmenmarkt deutlich, die, bedingt durch den sogenannten "Steinernen Stil", eine enorme 'Verblockung' dieses Areals zur Folge hatte. Eine Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Wandel findet man an der sich an den Potsdamer Platz anschließenden Leipziger Straße. Während am Potsdamer Platz nur noch die Ampel an frühere - vermeintlich glanzvollere Tage erinnert - soll der Leipziger Platz in den Strukturen der 20er-Jahre wieder entstehen, bevor der in diesem Falle sich zu Fuß fortbewegende Betrachter auf das Bundesratsgebäude und das Bundesfinanzministerium (aus den 30er-Jahren) trifft.

Die doppelt veränderte Perspektive der Fotografien, von oben und im Vergleich, lässt diese Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, jene polyhistorische Substanz des Architektonischen und des Stadtraums in Berlin im besten und einmaligen Sinne augenfällig werden.

Titelbild

Dirk Laubner / Richard Schneider: Berlin. Luftaufnahmen damals und heute.
Nicolai Verlag, Berlin 2003.
107 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3875849671

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch