From the garbage into the book

Andreas Neumeisters neues Buch "Angela Davis löscht ihre Website"

Von Ulrich RüdenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Rüdenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Es ist die Energie des Abfalls, die mich antreibt! Ich/ bin irritiert, ich bin entzückt." Knapp 33 Jahre sind diese Zeilen alt, man merkt es ihnen nicht an. Sie könnten auch von Rainald Goetz stammen. Aber es war der damals 29-jährige "Godfather" des deutschen Underground, Rolf Dieter Brinkmann, der die Sätze in die Schreibmaschine gehackt hat - zwei Zeilen aus dem fast vierzig Seiten langen Gedicht "Vanille", einem Müllhaufen aus Zitaten und anderen Fundstücken. Im Nachwort des Autors findet sich folgendes Aperçu von Andy Warhol: "From the garbage into the book". Direkt vom Abfalleimer ins Buch - das ist das Motto des jungen, noch vom Pop enthusiasmierten Brinkmann. Es geht darum, schreibt er, sich "dem im Augenblick des Schreibens sich anbietenden Material auszuliefern". Um eine Bewertung dieses abfallenden Materials geht es Brinkmann hingegen nicht: Der Autor gerät in einen Strudel, und was er aufschnappt führt gleichermaßen zu Irritation und Entzücken; beide Gefühlslagen sind ihm willkommen. In einem neo-avantgardistischen Gestus verknüpft er die verschiedensten "objets trouvés" miteinander, eine Todesanzeige mit einem Lexikonartikel über den Eisprung der Frau, die Einladung zu einer Lesung in Köln mit pornografischen Fotografien. "Das Thema des Gedichts", schreibt Brinkmann, "ist das Gedicht selber."

Man braucht nicht allzuviel hermeneutisches Geschick, um zu erkennen, dass mit der Verwirrung des von allerlei sekundären Wirklichkeitsfragmenten Zugedröhnten tatsächlich ein großer Spaß einhergeht: Die Bilder und Images einer medial vermittelten Welt, die in kulturpessimistischer Ernsthaftigkeit gerne als Schund zur Seite gelegt werden, finden in Brinkmann einen Empfänger, der sie weiterverwertet. Im Text. Als Text.

Seit 1969 ist der mediale Müllberg noch ein paar tausend Meter höher geworden - und er strahlt im wahrsten Sinne des Wortes. Mit neuen technischen Errungenschaften, allen voran dem Internet, wächst auch das wirre Geflacker auf dem Bildschirm. Man kommt mit dem Anklicken des virtuellen Papierkorbs auf der Benutzeroberfläche oder im eigenen Kopf gar nicht mehr hinterher. Freilich ist auch eine andere Reaktion als jene des Löschens denkbar: Man wird zum Sammler in den unerschöpflichen Weiten des World Wide Web und zum Jäger in den Jagdgründen des Sendegebiets, man wird zum Bastler, Monteur und Schlagwortverdichter, mit anderen Worten: Man setzt sich die Welt aus gefundenen Materialien und Medienschrott zusammen, wie es der 1959 geborene Autor Andreas Neumeister tut. Wer so verfährt, kann auch an einer italienischen Autostraße Zeichen entdecken, die man nur lesen muss: In Neumeisters Fotoband "In dubio pro disco", während seines Aufenthalts in der Villa Massimo 1999 in Rom entstanden, findet sich ein aus dem fahrenden Auto heraus aufgenommenes Bild eines Fabrikgebäudes mit dem Schriftzug "RDB", den Initialen Brinkmanns. Das kann kein Zufall sein.

Im Titel von Neumeisters neuem Buch "Angela Davis löscht ihre Website", das die Gattungsbezeichnung "Listen, Refrains, Abbildungen" trägt, sind die Pole des Interesses schon markiert: Referiert wird sowohl auf eine linke Dissidenz-Ikone - Angela Davis - als auch auf die neueste Medienwirklichkeit - das Internet. Die vor wenigen Jahrzehnten noch geltenden Formen politischer Subversion verschwinden im Nichts des Netzes. Und tauchen trotzdem immer wieder als Wahrnehmungssplitter auf.

Für Neumeister sind erst einmal - wie für Brinkmann auch - alle Erscheinungsformen der Massen- und Popkultur von Belang. Und zwar als Material, das sprachbewusst, also künstlerisch, weiterverarbeitet wird. Im Hyper-Text. Als Hyper-Text. Bei Neumeister klingt das folgendermaßen: "das Bewußtsein, in dem wir leben/ das Bewußtsein, mit dem wir leben/ pausenlos kreisen fremde Gedanken und fremde Weltbilder, getarnt als eigene Gedanken und eigene Weltbilder, um eine eigene Achse: jedes Musikvideo will eine kleine, runde Geschichte erzählen". Neumeister erzählt auch eine Geschichte, eine der Zeit, in der wir leben, und der Zeit, mit der wir leben. Einen Plot sollte man da nicht mehr suchen.

Wie hat man sich dieses Buch mit der merkwürdigen Gattungsbezeichnung vorzustellen: Auf manchen Seiten stehen nur wenige Sätze oder gar Wörter. Punkte gibt es keine, weil alles immer weitermacht. Nur manchmal finden sich Ausrufe- und Fragezeichen. Einige Sätze werden wiederholt, bilden Refrains. Zuweilen werden ganze Listen zusammengestellt, bestehend etwa aus der Aufzählung von Waffenfabrikaten. Das Schriftbild gemahnt ein wenig an einen Gedichtband, aber als solcher soll der Text nicht missverstanden werden. Ein starker Wille zur Verdichtung und Formung ist dem Ganzen aber nicht abzusprechen. An manchen Stellen, etwa wenn über zwei Seiten hinweg die Zeile "I'm informed, I'm entertained, I'm infotained, I'm okay" wiederholt wird, erinnert das an phonetische und visuelle Experimente der 50-er und 60-er Jahre: In Analogie zur "Konkreten Poesie" könnte man von "Konkretem Pop" sprechen.

Andreas Neumeisters Texte reihen hintereinander, stellen Materialien nebeneinander, reduzieren aufgeblasene Sinnlosigkeiten auf einen erkennbar sinnlosen Kern, leben überhaupt von Reduktionen. Semantische Einheiten werden zu Soundgebilden zusammengeschlossen, komponiert zu Refrains. Man muss manche Absätze gut laut lesen und kann dann die Nähe zu repetitiven Musikformen erkennen. Zur Musik überhaupt. Von den im Titel angesprochenen Abbildungen bleiben nur Bildunterschriften; man hat diese Bilder ohnehin im Kopf. Auch das eine Reduktion: Es sind Bildunterzeilen, denen die Bilder abhanden gekommen sind. Meistens ist es in der medialen, visuell aufgeladenen Welt ja gerade andersherum.

In Andreas Neumeisters letztem Roman "Gut laut" aus dem Jahr 1998 war schon angelegt, was nun konsequent fortgeführt wird: Es geht immer weiter weg von einer Handlung und hin zum Klang. Müll wird Kunst. Es geht ums Auflesen, ums Clicken und Zappen durch eine sekundäre Wirklichkeit, die die erste Wirklichkeit vollkommen zu überdecken scheint. Man spürt darin die Gefühle der Irritation und des Entzückens, von denen Brinkmann angesichts der "Energie des Abfalls" schreibt. Wer bei Neumeister, wie es manche Kritiker taten, eine harmlose Kunst der Gegenwartsbetrachtung erkennen will, verkennt sowohl die Irritation als auch das Verzücken, das von diesem sprachspielerischen Ansatz für den Leser ausgehen kann. Ein experimenteller Ansatz, der sich zudem stark von jenen traditionellen Erzählkonzepten unterscheidet, mit denen junge Autoren in den letzten Jahren unter dem Label "Popliteratur" von sich reden machten. Wie schreibt Neumeister in einem Essay, der bezeichnenderweise den Titel "Pop als Wille und Vorstellung" trägt: "Im Idealfall ist Pop populär und subversiv zugleich. (Im Idealfall ist Pop subversiver, als man auf den ersten Blick erkennt). Im Idealfall tritt der Idealfall tatsächlich ein." Voilà. Andreas Neumeister kommt dem Idealfall mit diesem kleinen Taschenbuch schon sehr nahe.

Titelbild

Andreas Neumeister: Angela Davis löscht ihre Website.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
120 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-10: 3518123106

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