Vers Schmuggel

Eine Anthologie zum Berliner Sommerfest der Literaturen 2002

Von Ron WinklerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ron Winkler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einen Text über eine Sprachgrenze hinweg zu übersetzen, ihn wenn nicht neu zu erschaffen, so doch neu zu emanieren, ist eine wagemutige Verpflichtung und ein zumeist pyrrhischer Prozess. Dies gilt insbesondere für die Poesie, jene immer schon selbstbewusst aussparende, geraffte Gattung.

Es gibt keine Richtlinien der Übersetzung. Kein Muster, das zeigt, wie jeweils die Laut- und Silben- und Pausenvernetzungen, die subtilen Bedeutungen und Bindungen, die Hinter- und Untergründe eines Begriffs und dessen kulturelles Kolorit zu übertragen sind.

Jede Übersetzung ist trotz der Suche nach Bildnähe eine Überschreibung. Und hat deshalb eine filigrane restauratorische Arbeit zu sein. Ein Status ist durch einen anderen zu ersetzen, der nicht gleich sein kann, aber mehr als nur ähnlich sein muss. Der etwas ergibt, das sich zwischen Identität, Äquivalenz und Verwandtschaft bewegt. Auf all den Ebenen von Morphologie und Semantik, Klang, Gestus, Syntax und optischer Form.

Jede Trans-lation hat eine Art Transsubstantiation zu sein. Das Substantielle des Gedichts ist zu verwandeln: transzendent, auf sich selbst (zu). Wo man die Substanz nicht einfach kopieren kann, muss man sie durch Ausweichmanöver oder Parallelaktionen in die andere Sprache bringen.

Wie schwierig das ist und wie dies gelingen kann, zeigte eine Initiative der literaturWERKstatt berlin. Je zwölf Lyrikerinnen und Lyriker aus dem deutschsprachigen Raum und aus frankophonen Kulturen trafen sich im Jahr 2002 im Rahmen des Berliner Sommerfests der Literaturen und assistierten einander bei der Übertragung ihrer Gedichte in den Zungenschlag der jeweils anderen Sprache. Die Resultate dieser Terrainsuche sind jetzt in der zweisprachigen Anthologie "Vers Schmuggel" erschienen.

Welche Möglichkeiten Übersetzungen haben, lässt sich dort sehr gut verfolgen. In einem Gedicht von Raphael Urweider beispielsweise ist die Rede von "schafe[n] die schlafen". Die Divergenz der französischen Sprache verbietet an dieser Stelle eine ähnliche wellenartige Klangmodulation. In der Übersetzung heißt es also sachlich genau: "brebis qui sommeillent". Doch der Übersetzer holt den Schwung der mehrfachen Assonanz einige Zeilen später nach, in der mindestens ebenso schönen Wendung "monceau que tropeau".

Man kann diese Freiheit ebenso kritisieren wie man sich daran stoßen kann, aus dem lautmalerischen "Glucks" ein "glouglou" formuliert zu sehen. Aber Poesie ist eben nicht auf die Lexik beschränkt, sie bedarf immer der Erweiterung durch den Leser.

Das Gedicht allein ist bereits "une écriture verticale", wie die Lyrikerin Anise Koltz schreibt. Eine Schrift, die in Tiefen führt. Sie in andere Sprachen zu wenden, verlangt nach der écriture diagonale des Übersetzers. Dass dieser diagonale Dialog sich an je anderen Stellen je anders entspinnt, liegt in der Natur der Sache.

Titelbild

Vers Schmuggel. Eine Anthologie zum Berliner Sommerfest der Literaturen 2002.
Herausgegeben von der Literaturwerkstatt Berlin u.a.
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2003.
315 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-10: 3884232088

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