Undinen- und Geschwisterliebe

Ein Sammelband beleuchtet historische Inzestdiskurse

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bekanntlich wurde die altägyptische Thronfolge durch Inzest der pharaonischen Geschwisterpaare gesichert. Der von Jutta Eming, Claudia Jarzebowski und Claudia Ulrich herausgegebene Sammelband über historische Inzestdiskurse geht zwar nicht soweit in der Geschichte zurück, doch immerhin bis zu den mittelalterlichen Inzestdiskursen des 11. und 12. Jahrhunderts. Das Buch ging aus einem interdisziplinären Workshop zum Thema "Inzest in der Frühen Neuzeit" hervor, der im Jahre 2000 am Friedrich-Meinecke-Institut der FU Berlin durchgeführt wurde, und enthält im wesentlichen die damals gehaltenen Vorträge. Ergänzt werden sie durch einen bislang nur schwer zugänglichen Text von Ulinka Rublack und last but not least einem Vortrag, den Judith Butler wenige Wochen zuvor in der "American Academy" in Berlin gehalten hatte.

Der Begriff des Inzests, erklären die Herausgeberinnen, wecke zwar scheinbar klare Vorstellungen, sei aber tatsächlich von "große[r] Flexibilität und Bandbreite". Dass Untersuchungen historischer Inzestdiskurse erhellen können, was in modernen Inzestdiskursen ausgeblendet wird, ist leicht nachzuvollziehen. Die hier konstatierte "wechselseitige Bedingtheit" von historischen Inzestdiskursen und denjenigen der Moderne ist jedoch nur schwer vorstellbar: Denn wie sollte es möglich sein, dass die Inzestdiskurse der Moderne die historischen Inzestdiskurse bedingen? Gemeint ist aber vielleicht, dass die modernen Inzestdiskurse die Wahrnehmung, Rezeption und Interpretation der historischen bestimmen.

Im ersten der chronologisch angeordneten Beiträge untersucht Jutta Eming Inzestneigung und -vollzug im mittelalterlichen Liebes- und Abenteuerroman anhand der Beispiele "Mai und Beaflor", einer Erzählung aus dem 13. Jahrhundert, und "Apollonius von Tyrus" einem griechischen Roman, der im Mittelalter viel gelesen wurde und in fast alle Sprachen des Abendlandes übersetzt worden ist. Eines der wichtigsten Ergebnisse ihrer Ausführungen ist, dass "männliche Inzesthelden" in der mittelalterlichen Literatur eine "erstaunliche Toleranz" erfahren. Weibliche Figuren werden hingegen "vollständig entwertet, in dem sie den Inzest begehen". Zweifellos eine wichtige Erkenntnis. Allerdings wäre es zutreffender, davon zu sprechen, dass die Frauenfiguren den Inzest erleiden. Denn aktiv begangen wird er nur von Männern - zumindest in der von Eming herangezogenen Literatur.

In einem luziden Beitrag liest Judith Klinger die "Melusine" (1456) Thürings von Ringoltingen als historischen Kommentar zur These von Claude Levi-Strauss bezüglich des "universellen Ursprungs von Kultur in Frauentausch und Inzestverboten". Überzeugend weist die Autorin nach, dass die Figur Melusine nicht etwa "Objekt des Frauentauschs" ist, sondern "Subjekt der Dynastiebildung", "Glücks- und Genealogieproduzentin", "Kulturstifterin" und "Mutter eines adligen Geschlechts". Zwar, so Klinger, tauge die Erzählung nicht als Ursprungsmythos, da die "Ursprungslosigkeit der Spitzenahnin" keine "mythische Sinnpotenz" stiften könne, doch lasse sich "'Melusine' als "dekonstruierender Kommentar" zu "kulturellen Setzungen von Verwandtschaft" lesen.

In weiteren Beiträgen wird der Inzest im südwestdeutschen Raum während des Zeitraums zwischen 1530 und 1700 beleuchtet (Birgit Klein), die Geschwisterliebe bei Goethe und Jean Paul untersucht (Franziska Frei Gerlach) oder die "Blutschandegesetze" des Allgemeinen Preußischen Landrechts von 1794 als "tiefgreifender Paradigmenwechsel" und Grundlage des modernen Strafrechts gedeutet (Brigitte Kerchner). In ihrer Untersuchung zum Inzest in der Literatur des 20. Jahrhunderts liest Bettina Banasch die Undinenliebe und die Geschwisterliebe als Gegenmodelle. Ihr eigentliches Interesse aber gilt letzterer. Zwar entziehe sie sich als "unhierarchische Liebesbeziehung der beiden im wörtlichen Sinne Ebenbürtigen" grundsätzlich den "Gewaltsamkeiten des 'normalen' Geschlechterverhältnisses", doch in den Literarisierungen neige sich fast immer ein älterer Bruder einer jüngeren Schwester "mit dem Gestus des Überlegenen" zu. Dieses Schema sei selbst bei den Zwillingen Ulrich und Agathe in Musils "Mann ohne Eigenschaften" zu erkennen. So sei das "Geschwisterliebemodell" zwar auf die Überschreitung von Gender-Grenzen "angelegt", doch die "heterosexuellen wechselseitigen Spiegelungs- und Ergänzungsverfahren von älterem Bruder und jüngerer Schwester" der "Geschwisterliebegeschichten" zementierten die herkömmlichen Gender-Grenzen auch hier. Erst eine Autorin der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts brach mit dieser Hierarchie. In ihrem Nachlass-Fragment "Das Buch Franza" gestaltete Ingeborg Bachmann die "Bruder-Schwester-Beziehung" neu, so Bannaschs interessante These, die einer eingehenderen Ausführung wert wäre. Doch belässt es die Autorin bei dem Hinweis, dass Franza die Ältere des Geschwisterpaares ist.

Judith Butlers abschließender Text beschäftigt sich nicht nur mit inzestuösen Beziehungen sondern mehr noch mit Verwandtschaftsbeziehungen überhaupt, wobei Butler an die Argumentation ihres kürzlich veröffentlichten Buches über "Antigones Verlangen" (Vgl. literaturkritik.de 10/2001) anschließt. Nachdrücklich wendet sie sich gegen einen Heterosexismus, der nicht etwa nur darin besteht, dass "jemandes Gefühle verletzt oder bestimmte Leute beleidigt werden", sondern dass ihnen wesentliche bürgerliche Rechte entzogen werden, wie die rechtlichen Unterschiede zwischen der heterosexuellen und staatlich sanktionierten Ehe und gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften zeigen. Doch auch eine völlige Gleichstellung beider wäre ein "ambivalente[s] Geschenk", da die staatliche Legitimierung der homosexuellen Ehe eine "Eingrenzung des Legitimen" bedeute, die andere queere Lebensweisen exkludiere. Für eine "progressive sexuelle Bewegung" sei daher die Vorstellung, dass alleine die Ehe Sexualität legitimieren könne, "inakzeptabel konservativ". Doch gleichgültig, ob sich Lesben und Schwule mit ihrem Kampf für staatlich sanktionierte Lebensgemeinschaften Gleichgeschlechtlicher "um den Eintritt in die heiligen Hallen der Normalität bemühen", oder ob sie sich "als das einzig 'Gesunde' innerhalb einer homophoben Kultur beklatschen", in beiden Fällen werde der "definitorischen Rahmen" nicht in Frage gestellt. Anders wäre es, wenn Verwandtschaft nicht mehr auf Familie reduziert und das "Feld der Sexualität" nicht länger "gegen die Form der Ehe vermessen" werde. Verwandtschaftsbeziehungen, wie Butler sie anstrebt, können daher "auf langfristige oder exklusive sexuelle Beziehungen gegründet sein oder auch nicht", sie können aus "Ex-Geliebten", "Nicht-Geliebten", "Freunden" oder aus "Mitgliedern einer Gemeinschaft" bestehen. So würden nicht nur die für die Definition von Verwandtschaft zentralen biologischen und sexuellen Beziehungen verschoben, sondern Sexualität könnte unabhängig von Verwandtschaft "verortet" werden. Das erlaube es, "dauerhafte Bande" außerhalb des "ehelichen Rahmens" zu denken und Verwandtschaft für ein "Set von Gemeinschaften" zu öffnen, das sich nicht auf Familie reduzieren lasse. Ein derartiges Verständnis von verwandtschaftlichen Beziehungen führt Butler zufolge zum Zusammenbruch der "traditionellen Verwandtschaft", indem es deren Grenze zur Gesellschaft verwischt.


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Jutta Eming / Claudia Jarzebowski / Claudia Ulbrich (Hg.): Historische Inzestdiskurse - Interdisziplinäre Zugänge.
Ulrike Helmer Verlag, Königstein 2003.
350 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-10: 3897411245

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