Nackte Babys auf einem Schlachtfeld

Katherine Mansfields wunderbare Erzählungen als Taschenbuchausgabe

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass sich Verhaltensweisen, Gepflogenheiten und Gesprächsthemen deutscher Wirtshausbesucher als Stoff für Parodien und Karikaturen eignen, dürfte so mancher aus eigener Erfahrung bestätigen können. Dem war auch schon vor rund hundert Jahren so, als Kathrin Mansfield, die zu Recht als Begründerin der englischen short strory gilt, "[i]n einer deutschen Pension" logierte und "Deutsche beim Fleisch" beobachtete, wie die Titel des ersten Erzählbandes und der ihn eröffnenden Erzählung der damals jungen Autorin lauten. In den köstlichen Satiren des Bändchens lässt die gebürtige Neuseeländerin, die den größten Teil ihres Lebens in Europa - meist in Deutschland und England - verbrachte, etwa eine deutsche Mutter der englischsprachigen Besucherin erklären, dass es unmöglich sei, Kinder zu bekommen, "wenn man nur Gemüse ißt", und die Überlegung anschließen, dass England ja ohnehin nicht mit Kinderreichtum gesegnet sei, was allerdings wohl eher auf das Frauenstimmrecht zurückzuführen sei.

Liest man die zarte Kunst ihrer späteren Erzählungen scheint die harsche Selbstkritik an dem Erstlingswerk der damals 23-Jährigen, das die Autorin nun als "viel zu unreif" und voller "jugendlicher Bitterkeit" befand, verständlich. Berechtigt ist sie dennoch nicht. Denn bereits in diesen Satiren tritt Mansfields feine Beobachtungs- und Fabulierkunst zutage. Auch sind sie weit mehr als nur unterhaltsam, ironisch oder bloß lustig, etwa dann wenn die Autorin ihre Protagonisten bissige Geschlechterkämpfe austragen lässt.

Geschlechterkämpfe werden auch in ihren späteren Erzählungen immer wieder ausgefochten. Dabei wird wiederholt der Unverstand des Mannes deutlich, und wenn einer ihrer weiblichen Figuren der Ruf "Wie unglaublich waren die Männer!" entfährt, so ist das durchaus nicht anerkennend gemeint. Aber natürlich sind auch die Frauenfiguren keine Lichtgestalten. Isabel etwa in "Marriage à la mode" ist auf ihre eigene Art durchaus nicht besser als viele der von Mansfield zu literarischem Leben erweckten Männer. Doch nur ausnahmsweise einmal wird der Kampf der Geschlechter mit einem Schuss aus der Krähenflinte entschieden.

Mansfield, deren Geschichten oft in ihrer alten neuseeländischen Heimat handeln und die von Sigrid Markamann als eine der "zentralen Figuren des postkolonialen Diskurses" gewürdigt wird, bietet allerdings weit mehr als Satiren auf deutsche Schwächen und Burlesken wie "Die schwarze Mütze" oder mal stumm erduldete und mal wortreich oder gar roh und gewaltsam ausgetragene Geschlechterkämpfe. In ihren wundervollsten Erzählungen gewährt sie den Lesenden mit subtilem Feingefühl Einblicke in das Innere ihrer literarischen Gestalten und malt Kinderseelen in Momenten ihres freudigsten Glücks ebenso wie in ihren Nöten und Bedrängnissen. Oft sind Mansfields manchmal nur wenige Seiten umfassende Geschichten von ergreifender Traurigkeit und Melancholie. Nichts könnte gramvoller enden, als der freudig begonnene Parkbesuch einer älteren Dame an einem schönen Sommersonnentag. Miss Brill unternimmt ihn, eine von Mansfields zahlreichen zarten Menschen, die sich wie "nackte Babys auf einem Schlachtfeld" fühlen.

Elisabeth Schnack hat Kathrin Mansfield "Sämtliche Erzählungen" zusammengetragen, mit einem umfangreichen biographischen Nachwort versehen und in einem preiswerten Taschenbuch vorgelegt. Es sind etliche wunderbare Kleinode darunter. Man sollte zu dem Buch greifen, es lesen und keine von ihnen auslassen, denn selbst diejenigen, die nicht ganz so herausragend sind - natürlich gibt es sie auch -, sind noch sehr viel besser als das weitaus meiste, das man heute vorgesetzt bekommt. Man sollte sie daher auch nicht einfach hinunterstürzen, wie der Wiesen-Besucher die Moaßen. Nein, man sollte sie in kleinen Schlucken im Munde rollen lassen, wie der Gourmet die Tropfen eines erlesenen Weines.

Titelbild

Katherine Mansfield: Sämtliche Erzählungen.
Übersetzt aus dem Englischen von Elisabeth Schnack.
Goldmann Verlag, München 2003.
956 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-10: 3442730341

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch