Mythen und Vorurteile über Juden in der Literatur
Elvira Grözinger untersucht Probleme der jüdischen Identität
Von Ursula Homann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Literaturwissenschaftlerin Elvira Grözinger (sie wurde 1947 in Polen geboren, wuchs in Israel auf und arbeitet heute an der Potsdamer Universität) setzt sich in ihrem Buch "Die schöne Jüdin", gründlich und sachkundig, mit Klischees, Mythen und Vorurteilen über Juden in der Literatur auseinander.
In ihrem ersten Beitrag, der dem Buch den Titel gab, weist sie darauf hin, dass jüdische und christliche Autoren häufig jüdische Frauengestalten aus der Bibel sowohl zu vorbildhaften "Heldinnen" als auch zu "Opfern" stilisiert haben. Vor allem männliche Autoren hätten ihnen verführerische und gefährliche Eigenschaften angedichtet. So sei neben dem Mythos des "hässlichen Juden" das Klischee der "schönen Jüdin" mit positiven und negativen Aspekten entstanden. Doch spielten nicht selten bei der Gestalt der "schönen Jüdin", wie bei ihrem Gegenteil, dem antisemitischen Konstrukt des hässlichen Juden, die Mär von ihrer angeblichen zersetzenden, zerstörenden, ja tödlichen Macht eine Rolle.
Eine der berühmtesten schönen Jüdinnen, um die sich Mythen ranken, ist die biblische Heldin Esther. Schriftsteller wie Jean Racine und Musiker wie Georg Friedrich Händel haben sich mit dieser Gestalt befasst. Über Judith entstanden ebenfalls mehrere Opern. Auch in der bildenden Kunst und in der Dichtung tauchte sie auf, wie etwa bei Donatello, Gustav Klimt, bei Friedrich Hebbel, bei Jean Giraudoux und in Georg Kaisers "Die jüdische Witwe".
Inspirierend wirkte auf Künstler und Dichter gleichfalls die apokryphe Geschichte der Susanna im Bade. Wilhelm Raabe wiederum verfiel dem Mythos einer schönen Jüdin in seiner Erzählung "Die Holunderblüte". Andere nichtjüdische Schriftsteller und Komponisten regte die Gestalt der todbringenden Salome aus dem Neuen Testament zu künstlerischem Schaffen an, so Oscar Wilde, Richard Strauss und Jules Massenet.
Dabei besteht das jüdische Eigenbild der Jüdin, gibt die Autorin zu verstehen, seit der Bibel aus ganz anderen Komponenten als aus der körperlichen Schönheit, die bei vielen Verarbeitungen im Vordergrund stehen. Vorherrschend war im Judentum vielmehr das Ideal einer tugendhaften Frau, die Hüterin des Hauses und der Familie ist. Allerdings sei diese Sicht selbst Autoren, die sich als "Judenfreunde" verstünden, durchweg fremd. Jüdische Autoren seien ihren jüdischen Frauengestalten zwar gegenüber weniger aggressiv, dennoch seien sie als Männer nicht weniger befangen, glaubt Elvira Grözinger festgestellt zu haben. Das werde zum Beispiel deutlich in dem Roman "Tante Schlomzion die Große" des israelischen Schriftstellers Yoram Kaniuk, in Meir Shalevs Roman "Judiths Liebe" und in Geschichten von Amos Oz, von Abraham B. Jehoschua und Samuel Josef Agnon.
Als Auflehnung gegen die überkommenen Frauenbilder könne man dagegen die gegenwärtige israelische Literatur von Frauen werten, die gegen Ende des 20. Jahrhunderts zu tage trat. Vor allem habe die Tatsache, dass jüdische Frauen "die Feder selbst in die Hand genommen haben" nachhaltige Auswirkungen auf das Bild der jüdischen Frau gehabt. Angefangen habe diese Tendenz bei Yael Dayan, der Tochter des Generals Moshe Dayan und ihrem Roman "Ich schlafe mit meinem Gewehr", bis hin zu Orly Castel-Blooms umstrittenen Roman "Dolly City" und Bataya Gurs "So habe ich es mir nicht vorgestellt".
In ihrem Beitrag "Judenmauschel" beleuchtet die Publizistin die Funktion der Sprache der Juden als identitätsstiftendes Element sowie als Ziel von Spott und Karikatur durch Antisemiten. Sie erzählt, wie die "Sprache der Juden" von ihren jeweiligen Gastvölkern stigmatisiert worden ist, was wiederum zur Ausgrenzung ihrer Träger durch die Jahrhunderte beigetragen habe. Gerade in der Debatte um die Emanzipation der Juden habe der Aspekt der Sprache seit dem 18. und im Laufe des 19. Jahrhunderts an erster Stelle gestanden und habe häufig als Argument wider die Integration der Juden in Deutschland gedient.
Nicht zuletzt durch die Romantiker, die Juden und ihre heilige Sprache und nicht nur ihr Alltagsidiom, das Jüdisch-Deutsche, als zersetzendes Element für die deutsche Gesellschaft entdeckt zu haben wähnten, wurden die Einwände gegen den Gebrauch der hebräischen Sprache durch Juden Anfang des 19. Jahrhunderts von neuem belebt. Das wird besonders augenfällig in Achim von Arnims Erzählung "Die Majoratsherren", ferner in Gustav Freytags Roman "Soll und Haben" und in Wilhelm Raabes "Der Hungerpastor". Bis in unsere Tage ist offensichtlich das Thema "jüdische Sprache" in der Literatur problematisch geblieben. Elvira Grözinger führt als Beleg für diese These Albrecht Goes' Erzählung "Das mit der Katz" an.
Freilich handle es sich hierbei, räumt sie ein, um kein ausschließlich deutsches Phänomen. Eine voreingenommene Sicht auf Juden sei auch im England der Renaissance zu beobachten gewesen, ebenso in der französischen und in der polnischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Bis heute seien diese negativen Sichtweisen auf Juden und ihre Sprache tradiert worden, selbst von Autoren, die dem Antisemitismus entgegenwirken wollten. Eine historische Stärkung der jüdischen Identität bedeuteten indes zweifellos die Entstehung des Zionismus Ende des 19. Jahrhunderts und die Gründung des Staates Israel. Der Zionismus habe zwar den Antisemitismus nicht besiegen können, doch habe er mit seiner Sprachpolitik zur Festigung der jüdischen Identität beigetragen. Jedenfalls bedürfe ein Jude nicht mehr des Antisemitismus, laut Aussage des israelischen Schriftstellers Abraham B.Jehoshua, um seine Identität zu finden.
Unter der Überschrift "Im Schatten der Menora" geht es um das Bild von Juden in der modernen polnischen Literatur. Unter Berücksichtigung der historischen und gesellschaftlichen Hintergründe lässt die Autorin jüdische und nicht-jüdische Stimmen aus Polen über polnisch-jüdische Beziehungen zu Wort kommen. An Andrzej Szczypiorskis Roman "Die schöne Frau Seidenmann", Pawel Huelles "Weiser Dawidek", Stefan Chwins "Der Tod in Danzig" und Anna Boleckas "Der weiße Stein" verdeutlicht sie, dass sogar diese Bücher, allesamt aus der Feder von Nichtjuden, voller Mythen sind, dass sich jedoch viele dieser Schriftsteller und Schriftstellerinnen der großen Lücke durchaus bewusst gewesen seien, die in ihrer Gesellschaft und Kultur durch Holocaust und Nachkriegsantisemitimus entstanden sind.
In "Le Juif imaginaire" wird die Suche nach jüdischer Identität in Frankreich nach 1945 thematisiert, anhand von Texten aus der Feder von Jean-Paul Sartre, Alain Finkielkraut, Romain Gary, Patrick Modiano und Sara Kofman, wobei sich zeigt, dass selbst bei Juden in Frankreich die Shoah noch immer präsent ist.
Im letzten Essay, der der jüdischen Mutter in der US-amerikanischen Literatur nach 1945 gewidmet ist, weist Grözinger nach, dass in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Autoren und Autorinnen den Mythos von der "jiddischen Mame" mehr oder weniger humorvoll entzaubert haben. Inzwischen hat dieses Thema auch auf Juden in Deutschland übergegriffen wie das kürzlich erschienene Buch von Viola Roggenkamp "Tu mir eine Liebe. Meine Mamme" anschaulich belegt.