Mitgerissen in einem Strom chlorreicher Momente

Helmut Kraussers erfrischender Gedichtband "Strom"

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Helmut Krausser: "Strom" - es darf gelacht werden: Er hat, als er fünfzehn war, ein Mädchen im Wellenbad berührt, ein "chlorreicher Moment". Der Nikolaus fährt Ferrari, weil sich Rentiere nicht rentieren. Vom "Rilke-Rausch" strömen die Verse ungebremst auf eine "Gedichtbaustelle" zu, wo passende Reime noch händeringend gesucht werden. Das Suchen nagelkauender selbstberufener Freizeitpoeten nach dem richtigen Reim zieht Helmut Krausser spielend in die Peinlichkeitszone: Er liebte dich wie "Meerrettich", nun ist die Liebe "erschlafft", säuerlich und trüb wie "Öko-Apfelsaft". Überhaupt sollte man das Dichten vielleicht lieber lassen - "Narr, wer noch Gedichte schreibt, / es nutzt dem Konto selten was, / macht zuviel Arbeit, übrig bleibt / oft Mittelmaß, oft nicht mal das."

Sind die vorliegenden neunundneunzig Gedichte wider den spießigen Ernst nur Mittelmaß? Der 1964 geborene Schriftsteller, Spieler, Nachtwächter, Komponist neoromantischer Kammermusik und Sänger der Band "Genie & Handwerk" Helmut Krausser ist ein raffinierter Kerl. Er bedient sich veraltet geglaubter Metren wie des Alexandriners und schafft dabei den Spagat zwischen formaler Strenge und inhaltlicher Raffinesse. Der Griff zu diesem Buch gleicht dem Griff zu einer eisgekühlten Cola in hochsommerlicher Mittagshitze, ein Strom von Gedichten erfrischender Fröhlichkeit.

Doch damit ist nur eine Seite Kraussers aufgedeckt. Mitten zwischen herzhaften Lachern und wohligem In-die-Hängematte-Kuscheln, während man von Rosé-Wein im lichten Hain nahe Rom liest, wecken nachdenkliche und reflektierende Töne. Konzentration inmitten von Albernheit: "Stündlich neues etwas irgendetwas neues sonst wird mein Schädel an die Wand gepresst ..." Rezensiert sich Krausser hier selbst? Zumindest versucht er, seinen Kritikern das Pulver zu nehmen. Man solle nicht an sich festhalten, sonst sei man weder man selbst noch irgendwer sonst, so der Autor. Die Diskussion über die Bedeutung von Schriftstellern löst sich als unbedeutend auf - Buchmessenrondo eben. "Ich dachte: nichts. Nichts wird von mir bleiben." Hans Christian Kosler schrieb im Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung: "Hier sanftmütig, an anderer Stelle launisch, rebellisch und ungebärdig wendet sich Krausser gegen den Zeitgeschmack und schreibt ein modernes 'Vanitas, vanitatum' gegen die Selbstüberschätzung und die (eigene) Etabliertheit." Mittelmaß ist das nun wirklich nicht.

Im letzten Gedicht wird noch einmal darauf hingewiesen, dass gerade eine Datenübertragung stattfindet: "Sind Sie sicher, dass Sie abbrechen möchten?" Nein, heiterer Neustart und tief durchatmen.

Titelbild

Helmut Krausser: Strom. Gedichte.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2003.
112 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3498035126

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