Nachtmann sucht das Licht

Adriaan van Dis erzählt in "Doppelliebe" die Geschichte eines jungen Mannes

Von Petra PortoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Porto

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Mein Sex ist unteilbar", stellt der namenlose Protagonist von Adriaan van Dis' Roman "Doppelliebe" fest. Und um eine Erklärung dieses interessanten, aber eher rätselhaften Satzes gebeten, erläutert er: "Ich bin anders, ich fühle Dinge, die andere nicht fühlen."

Zumindest hofft er das. Er möchte sein wie Charles Baudelaire oder Oscar Wilde, und wenn er nicht zum Dichter taugt, dann möchte er zumindest ausschauen wie seine Helden. Er schwärmt für Rilke, weil er hofft, durch einen Vortrag seiner Gedichte Frauenherzen zu erobern - oder es zumindest auf die Schauspielschule zu schaffen. Er sieht sich als Jean Genet im "Tagebuch eines Diebes": So gerne wäre auch er etwas Besonderes und Einzigartiges, ein böser Junge, ein harter Kerl, der sich nicht um Konventionen schert ("Ich gehe auch zu den Huren", bemerkt er beinahe trotzig) und selbstbewusst durch die Welt streift. Und in seiner Vorstellung ist er das auch: Da ist er der Gigolo, der Bär, der Mörder und Terrorist, der die Welt in Atem hält. In Wirklichkeit jedoch bleibt er ein unsicherer Student ohne Studienfach, der sich für einen Schauspieler hält und sein Leben lang nichts anderes tut, als mehr oder minder erfolgreich eine Rolle nach der anderen zu spielen, um seine Unsicherheit und Kontaktscheu zu verbergen. "Nur Verkleidungen konnten meine Häßlichkeit kaschieren", meint er.

Am liebsten ist er wohl der Nachtmann, der sich im Dunkeln unter die Strichjungen schleicht: "Nachtmann blieb viel Zeit, sie zu beobachten - das Kokettieren, die schmachtenden Gesten, wie sie das Handgelenk flattern ließen und eine nicht vorhandene Haarlocke aus der Stirn schleuderten - er konnte das alles spielen. Aber als er endlich vor einem Volkswagen in die Knie ging, war sein Blick zu wenig abgefeimt, nicht unverschämt genug."

Tief in seinem Herzen ist der Nachtmann dann doch ein Unglücklicher, dessen Definition von Glück "vollkommene Hingabe" ist, der davon träumt, "sich selbst [zu] vergessen". Er ist auf der "Jagd nach dem Ganzen", nach der Vollständigkeit von Platons Kugelmenschen, die die Welt verloren hat, er ist auf der Suche nach sich selbst: "Irgendwo unter all den Männern, die ich gespielt habe, steckt der Mann, der ich wirklich bin. Mein Ich." Falls es dieses "Ich" tatsächlich gibt, muss es sich der Leser selbst zusammenreimen.

Denn ganz im Gegensatz zu dem, was der Titel oder auch der Klappentext suggerieren ("Solange er sich nicht entscheiden kann, ob er Männer oder Frauen liebt, verkehrt er wie ein Spion in beiden Lagern."), ist "Doppelliebe" kein Roman über die Bisexualität des Protagonisten oder seine sexuelle Identitätssuche, sondern über die Persönlichkeitsfindung oder besser -suche eines jungen Mannes, der sich in dem, was er darstellen möchte, verliert.

Formal spiegelt sich diese Zersplitterung im Wechsel von Perspektiven und erzählerischem Gestus. Doch vielleicht übertreibt van Dis das Spiel mit der Wandelbarkeit - oft wirkt der Protagonist nicht suchend, nicht wie eine zerrissene Persönlichkeit, sondern wie eine willkürlich zusammengestückelte Figur, die ihrem Schöpfer dazu dient, literarische Untiefen auszuloten.

Dabei erzählt der Protagonist seine Geschichte selbst, aus der Retrospektive. Ein Gespräch mit seinem engsten Freund rahmt die Lebensbeichte ein und führt die Darstellung somit auf sich selbst zurück, veranschaulicht die Kreisbewegung, die der Erzähler immer wieder aufs Neue vollzieht, die ihn immer wieder auf sich selbst zurückfallen lässt. Er treibt richtungslos durch seine Jugend, und jeder Versuch, sich von den Erinnerungen an die Kindheit und den Vater zu lösen, misslingt. Der Protagonist kann sich nicht nur nicht von dessen ererbter Garderobe trennen, die beiden verbinden auch einige Geheimnisse, die dem Leser erst sehr spät offenbart werden. Der Erzähler täuscht und wird enttäuscht, die außergewöhnliche Liebe, die er sucht, hält dem Alltag nicht stand.

Erotisch ist der Roman nur selten, wohl kaum ein "holländischer Pornoroman", wie in der "Süddeutschen Zeitung" zu lesen war, dafür sind die Sexszenen zu weit gestreut und größtenteils wenig leidenschaftlich, obgleich sich der Autor nicht scheut, die Dinge beim Namen zu nennen. Darüber hinaus schildert van Dis die sexuellen Abenteuer seines Helden allerdings gelegentlich mit unverhohlenem Amüsement, das so gar nicht zu der Ernsthaftigkeit zu passen scheint, mit der er dessen verzweifeltes Rollenspiel beschreibt. Sein erstes Mal erlebt der Protagonist von "Doppelliebe" zum Beispiel mit einem alten deutschen Wörterbuch: "Du liegst auf dem Bett, den dicken Duden auf dem Schoß, und schlägst zum x-ten Mal eigenartige Rilke-Wörter nach ... du klappst den vorderen und den hinteren Buchdeckel weit nach hinten, schonungslos [...], bis der Einband in den Bünden ächzte und sich ein halb ovaler Schacht bildete [...]. Dein Schwanz paßt hinein. Steck ihn rein ins Wörterbuch. [...] Spür die Wörter, spritz auf die Rosen. Und alle ihre Worte sind bewohnt. Man konnte die Schönheit vögeln."

Für einen Pornoroman also zu schelmisch, für einen Schelmenroman zu ernst und für einen seriösen Entwicklungsroman vielleicht doch wieder zu pornografisch: Adriaan van Dis' "Doppelliebe" lässt sich schwer einordnen. Ein Buch, das seinem eigenen Protagonisten wahrscheinlich gefallen hätte.

Titelbild

Adriaan van Dis: Doppelliebe. Geschichte eines jungen Mannes. Roman.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas.
Carl Hanser Verlag, München 2004.
320 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3446204547

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch