Beobachtungen vom Asphalt

Verkehr als zentrale Wahrnehmungsfigur einer Literatur der Moderne

Von Birte TeitscheidRSS-Newsfeed neuer Artikel von Birte Teitscheid

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Literatur begibt sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in das Dickicht der Städte. Ihre Geschichten entstehen auf dem Asphalt, in den unüberschaubaren Knotenpunkten des Verkehrs. Die Menschenmassen, ihre Verkehrs- und Warenströme ausspähend wird sie neben der Fotografie und dem Film zu einem wichtigen Beobachtungsinstrument städtischer Betriebsamkeit. Neue Erzählformate bestärken sie in ihrem ehrgeizigen Vorhaben, das wesenlose Treiben auf den Straßen, das Strömen der Menge, den Fluss von Informationen und Waren aufzuzeichnen. "Die in ihr vollzogenen Konfrontationen alltäglicher moderner Wirklichkeit" werden zu Wahrnehmungsmustern, deren entziffernde Lektüre, wie Johannes Roskothen anmerkt, "im besten Fall den mentalen Gehalt einer Epoche freisetzt".

Der Textkorpus von Roskothens Habilitationsschrift besteht aus einer Zusammenführung von kultur- und literaturwissenschaftlichen Arbeiten, die sich mit dem Mobilitätsphänomen 'Großstadt' auseinander setzen. Roskothen wählt einen systemtheoretischen Ansatz, der die Wahrnehmungskonfigurationen literarischer Texte vor allem aus ihrer zeitgeschichtlichen Dimensionierung heraus verstehen will. Die Untersuchung des Phänomens schließt die Anwendung unterschiedlicher Wissensbereiche mit ein: Verkehr ist Zirkulation ist Raumgewinnung ist Oberfläche. Über die Verflüssigung einer entfesselten Geldwirtschaft als Leitmotiv für die Dynamisierung des Alltags in den soziologischen Schriften von Hans Georg Simmel schlägt Roskothens Analyse eine Brücke zu Siegfried Kracauers Begriff der Oberfläche.

Auf der Oberfläche tritt alles für die Kürze eines Augenblicks hervor: die inszenierte Warenästhetik auf Litfasssäulen, die unterschiedslos alles nebeneinander verkünden, Tanzrevues, die die Aufhebung der Trennung von Hoch- und Popularkultur anzeigen, das Tempo einer Taxifahrt, von dem sich die Protagonistin Doris in Irmgard Keuns "Das kunstseidene Mädchen" berauscht fühlt. So flüchtig und zufällig sich die Wahrnehmung und Entzifferung dieser Oberflächen auch gestaltet, durch sie erfährt die Großstadtliteratur erst ihre spezifische Signatur, ihr, mit Kracauer, "transitorisches Ornament". "Die Ästhetik des Strudelns und Mitgerissenseins in einer Zusammenballung von Details und ineinander verknäulten Kontinuitätsfolgen" ist der semantische Rohstoff, der in den literarischen Texten der Neuen Sachlichkeit zum Thema gemacht wird.

Wie Roskothen in seiner Analyse herausarbeitet, leisten literarische Texte Verkehrsbeobachtung, indem sie das Treiben auf den Straßen entweder aus der Distanz oder aber aus der Innenansicht ihrer Akteure poetisieren. Gilt die distanzierte Beobachtung noch für eine Literatur der Jahrhundertwende, in welcher der Leerlauf der verkehrenden Massen aus einer historischen Perspektivierung kritisch beleuchtet wird, so sieht der Wechsel in die Binnenperspektive dies nicht mehr vor. Indem die gesicherte Erzählposition wegbricht, wird das Verkehrsparadigma nun vor allem durch seine Teilnehmer sicht-, hör- und fühlbar. Neben "Kreaturen" wie Franz Bieberkopf, die in dem Treiben gänzlich den Überblick verlieren, bildet sich der "Radartypus Mensch" heraus, der das Verkehrsaufkommen wie ein Seismograf abzutasten vermag. Unschwer zu erkennen, dass sich die neusachliche Stadterzählung hierfür besonders futuristischer Leitbilder bedient.

Mensch und Technik verschmelzen in dem von der Literatur beobachteten Stadtalltag des frühen 20. Jahrhunderts zu einem euphorischen Bewegungsrausch. Der durch die Geschwindigkeit bereinigte Mensch ist hyperrational, transparent und anpassungsfähig. Betrieb der Expressionismus die Hypostasierung von Subjekt- und Lebenskrisen, so entspricht der Massenmensch einem neusachlichen Lebensgefühl. Im Zuge der traumatischen Erfahrungen des Ersten Weltkrieges findet die futuristische Programmatik, welche die energetische Verausgabung in der Masse als elitäres Gruppengefühl beschwört, allerdings kaum noch Zuspruch. Die Mehrzahl der literarischen Texte der Neuen Sachlichkeit beschreibt das Leben in der Menge als demokratisches Prinzip: Das Leben dort drin ist zuallererst Verkehrsteilnahme.

Literarische Streifzüge durch die Metropolen Berlin, London, New York, Paris und Petersburg unterlegen im zweiten Teil den Versuch, den Beobachtungsgegenstand Verkehr im Wahrnehmungszentrum moderner Literatur anzusiedeln. Unklar bleibt, wie das Phänomen als ästhetische Disposition für die Textanalyse zu funktionalisieren ist. Roskothen deutet zwar an, dass Verkehrsimaginationen in Texten wie Döblins "Berlin Alexanderplatz", Joyce' "Ulysses" oder Dos Passos' "Manhattan Transfer" form(an)gebend sind, eine grundlegende ästhetische Systematisierung bietet die Arbeit jedoch nicht an. Ob die Wahrnehmungsdisposition Verkehr nun als "Basiskarte", "semantisches Rohmaterial" oder aber als "Trägersubstanz" literarischer Texte ab etwa 1915 in Erscheinung tritt, sie bleibt in Roskothens Analyse vorrangig ein Konstrukt der Beobachtung und ihrer jeweiligen Perspektivierung.

Titelbild

Johannes Roskothen: Verkehr. Zu einer poetischen Theorie der Moderne.
Wilhelm Fink Verlag, München 2003.
345 Seiten, 40,90 EUR.
ISBN-10: 3770537734

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