Gespräch mit einem Auswanderer - Uwe Johnson vor dem Sprung

"Leaving Leipsic next week"

Von Roman KernRSS-Newsfeed neuer Artikel von Roman Kern

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Uwe Johnsons Biografie in Verbindung mit den Gegenständen seiner Bücher hat dazu geführt, dass er "Dichter der beiden Deutschland" genannt wurde - ein Titel, gegen den er selbst sich zu Lebzeiten oft vehement gewehrt hat. Es darf jedoch gesagt werden, dass seine Lebensgeschichte durchaus eine solche Bezeichnung nahe legte: geboren im Jahr 1934, wurde er von seiner Mutter zunächst in ein Eliteinternat der Nationalsozialisten geschickt. Nach Kriegsende erwarb er das Abitur im Mecklenburgischen Güstrow, das nun Teil der Ostzone war. Bereits vor dem Abitur war Johnson aktiv in der FDJ gewesen, fiel jedoch um 1953 herum unangenehm auf: kritische Äußerungen im Bezug auf die sich gerade ändernde Parteilinie waren nicht erwünscht. Bereits damals begann er zu schreiben; es folgte das Studium der Germanistik in Rostock und Leipzig.

Nach Abschluss des Studiums versuchte Johnson, seinen Roman-Erstling "Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953" beim Berliner Aufbau Verlag unterzubringen. Es wurde ihm jedoch unmissverständlich klar gemacht, dass er für eine Publikation das Manuskript erheblich umschreiben müsse. Statt dieses Angebot anzunehmen, entschied sich Johnson nach einem Gespräch mit Peter Suhrkamp, der sein Manuskript wohlwollend abgelehnt und den jungen Autor zugleich zum Weiterarbeiten aufgefordert hatte, in den Westen zu gehen. Zeitlebens bestand er darauf, lediglich vom Berliner Osten in den Westteil der Stadt umgezogen zu sein, auch wenn man sein Weggehen durchaus als Exil bezeichnen könnte. 1959 erschien sein erstes Buch "Mutmaßungen über Jakob" beim Suhrkamp Verlag. Der Rest ist nicht nur Verlagsgeschichte Suhrkamps unter der Leitung von Siegfried Unseld, sondern auch Literaturgeschichte Deutschlands zwischen den 60er und 80er Jahren.

Die vorliegende Publikation des Transit Verlages Berlin aus dem Jahr 2002 macht den Briefwechsel Uwe Johnsons mit seinem Studienfreund Jochen Ziem zugänglich, wobei die Bezeichnung irreführend ist, da es sich vielmehr um Texte aus Johnsons Feder handelt, geschrieben als "Briefe an Jochen Ziem", wie der Untertitel der Veröffentlichung lautet. Die Antworten haben sich in Johnsons Nachlass nicht finden lassen.

Jochen Ziem studierte bereits ein Semester lang in Leipzig, als Johnson ebenfalls dorthin wechselte und schnell Teil einer Gruppe von ähnlich gesinnten Freunden wurde, die sich vor allem durch ihr Bestreben auszeichnete, über den Tellerrand dessen zu sehen, was in den Bereichen Literatur, Musik und bildende Kunst in der damaligen DDR erlaubt war. In den Briefen an Ziem jedenfalls finden sich Namen wie Kafka, Huxley, Strawinsky, Barlach, Klee und Picasso. Die gemeinsamen Interessen der Freunde waren damals durchaus gefährlich: einer aus ihrem Kreis, Manfred Bierwisch, war beim Grenzübertritt 1952 mit sechs Ausgaben der Zeitschrift "Der Monat" erwischt und in der Folge zu eineinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt worden, von denen er immerhin zehn Monate absitzen musste.

Jochen Ziem war zwar mit den Personen dieses Kreises bekannt, zählte jedoch nicht zu ihrem Kern. Dass er im Frühjahr 1955 in der Folge eines Besuches bei seinen Eltern in Hannover nicht mehr nach Ostdeutschland zurückkehrte, ist der Grund für den Beginn des schriftlichen Austausches. Der erste Brief Johnsons ist auf den 21. März diesen Jahres datiert. Davor lagen etwa sechs Monate gemeinsam verlebter Zeit.

Viel später erinnert sich Jochen Ziem: "Wir trafen uns nach der Uni vor einem Bier. Ich glaube, wir hatten beide gewittert, dass wir die eigene Literaturerzeugung als unser Geheimnis mit uns herumschleppten." Doch neben dieser Gemeinsamkeit nennt er noch anderes, das sie verbindet: "Wir waren nicht in dem Sinne befreundet, dass wir in das Privatleben des Anderen helfend oder korrigierend eingreifen hätten können. Ich glaube, es reichte uns, zu wissen, dass Leute wie wir vereinzelt vorkommen und dass die Isoliertheit, die uns der politische Lehrbetrieb mit seinem verzweigten Spitzelsystem aufgezwungen hatte, gemeinsam besser ertragen werden konnte." Eine weitere Parallele stellte sich Ende der 50er Jahre heraus, als Johnson auswanderte - es gab für beide keinen Weg, in der DDR ein finanzielles Auskommen zu finden, weshalb beide ihr Heil im Westen suchten.

In den veröffentlichten Briefen und Postkarten trifft man auf einen sehr zum Scherzen aufgelegten jungen Johnson. Sein Gegenüber adressiert er mit "Schochen" oder "Tschuochen", manchmal auch mit "Lieben Ziem". Einmal sendet er zwei Postkarten desselben Inhalts - die eine handschriftlich, die andere in Druckbuchstaben - offenbar eine ironische Stellungnahme zu vermutlich nicht nur von Ziem vorgebrachten Beschwerden über die Leserlichkeit seiner Handschrift. Als er später nochmals ernsthaft darauf Bezug nimmt, wird deutlich, dass es sich um aufrichtige, bereits früh vorhandene Versuche handelt, die Kommunikation zu verbessern.

Hin und wieder sind die Briefe mit Zeichnungen verziert, die kleine Karikaturen des Johnson-Kopfes darstellen - ein hoher schmaler Kopf mit abstehender, rauchender Pfeife. Diese Zeichnungen entsprechen der häufig verwendeten Unterschrift "Slim", was auf Englisch soviel wie "schmal, schlank" bedeutet, doch auch mit "schmächtig, schwach, klein" und je nach Kontext selbst mit "geringfügig" übersetzt werden kann. Zweifelsohne waren dem jungen Johnson diese Facetten der Wortbedeutung geläufig, war er doch bereits damals ein vorzüglicher Kenner der englischen Sprache. Es ist gerade dieses ironisierende Spiel mit der eigenen Person, das sich auch beim Briefwechsel mit Unseld zeigen soll in der sehr häufig gewählten Unterschrift: "Ihr ganz ergebener Uwe Johnson."

In der Kritik von Texten, die ihm Ziem übersandte, werden frühe erzähltheoretische Ansätze formuliert. "Diese Skizzen scheinen keinen Punkt zu haben, von dem aus sie erzählt sein könnten, für mich haben sie keinen. Heisst: ich glaube nicht, dass Sie eine Position haben von der aus Sie reden." Hier meint man schon beinahe den späteren Lektor Johnson bei der Arbeit zu sehen, der unter anderem von Max Frisch gebeten wurde, seine Tagebücher zu redigieren, bevor diese veröffentlicht werden sollten. Sein Urteil war untrüglich und seine Worte manchmal hart, wie man auch bei der Lektüre mancher seiner Gutachten für Verlage feststellen kann, die zwischen 1956 und 1958 erstellt wurden und mittlerweile als Band 4 der Schriften des Uwe Johnson-Archivs vorliegen.

Die gemeinsamen Freunde Manfred Bierwisch und Klaus Baumgärtner lassen in den Briefen gerne als "Herr Bier und Baum" grüßen. Ein Brief vom 27. April 1956 beginnt: "Lieben Joachim Ziem das weiss ich auch dass der linke Rand unordentlich ist. Ich werde Sie nun um etwas bitten ..." Es gilt eine Unmenge solcher Kleinodien zu entdecken mit einer erstaunlichen Bandbreite zwischen feinem Hintersinn und jugendlicher Albernheit.

Daneben gibt es jedoch auch eine gehörige Portion Zeitgeschehen. So erfährt man, dass im Jahr 1952 die "Gesellschaft für Sport und Technik" ins Leben gerufen wird, eine Art Massenorganisation zur vormilitärischen Ausbildung Jugendlicher, die Johnson ironisch "Gesellschaft für Sport und Technik des Kleinkalibergewehrs" nennt. Jene neu gegründete Gesellschaft war für Ziem einer der Gründe dafür, Ostdeutschland zu verlassen. Anders als Johnson, der sich aus gesundheitlichen Gründen freistellen ließ, sah er wohl keine Möglichkeit, dieser Vorstufe des Wehrdienstes zu entgehen.

Bevor Ziem Leipzig und schließlich auch die DDR verließ, hatte er Johnson gebeten, sich um "das Mädchen" zu kümmern. Es handelte sich um die damalige Freundin Ziems und Mutter des gemeinsamen Kindes. Die ihm angetragene Aufgabe erfüllte Johnson gewissenhaft. Erst Jahre später sollte sich herausstellen, dass er diesen Freundschaftsdienst bei aller Sympathie für "das Mädchen" als eine Bürde empfand. Nach seiner Rückkehr aus New York 1968 trifft sich Johnson seit langem das erste Mal mit Jochen Ziem, um die gemeinsame Vergangenheit aufzuarbeiten. Dieser zitiert ihn aus der Erinnerung: "Wie war das eigentlich damals, war es nicht eine beträchtliche Leichtfertigkeit, mir die Dame Maria zurückzulassen mit der Forderung: Nun kümmern Sie sich mal!?"

In Ermangelung der Antwortbriefe Jochen Ziems hat sich der Herausgeber entschlossen, stattdessen verschiedene Texte von ihm aufzunehmen: den ersten der drei Teile von Ziems "Jahrebüchern", die sich mit Uwe Johnson befassen, ferner "Drei Anekdoten", ein unter dem Namen Joachim Bundschuh veröffentlichtes Gedicht "Auf dem Markt" sowie den "Brief aus Halle, Juni 1953". Doch nur der Auszug aus den "Jahrebüchern" eignet sich, zusammen mit den Briefen eine Art Dialog nachzubilden - es ist der einzige Text, der sich mit Johnson beschäftigt. Das andere Material erfüllt in diesem Zusammenhang nur die Funktion, dem geneigten Leser die Person Jochen Ziems etwas näher zu bringen.

Gerade weil aber Briefwechsel an sich dialogisch sind und der vorliegende Band im Grunde dementsprechend konzipiert ist, wäre zumindest der Abdruck sämtlicher sich mit Johnson befassenden Stellen aus Ziems "Jahrebüchern" wünschenswert gewesen. Dass dies nicht geschah, mag seinen Grund haben in der Art, wie Ziem in seinen Schilderungen mit noch lebenden Personen verfuhr: Der Herausgeber Erdmut Wizisla erklärte auf Anfrage, es hätte das gesamte Material als Transkription vorgelegen, doch wäre aufgrund der unerfreulich geringschätzigen Note in Ziems Äußerungen die Entscheidung sehr schnell gegen einen Abdruck des gesamten Textes gefallen: Zu stark hätte man zu viele Passagen ändern müssen, um keine lebenden Personen zu beleidigen. So ist nur das vorliegende Material veröffentlicht worden. Dennoch bleibt dies ein Kritikpunkt an der Publikation.

Hinzu kommt, dass man sich leider entschlossen hat, nur einen Teil der Briefe und Postkarten neben der Transkription auch verkleinert zu reproduzieren. Das verwundert vor allem wegen des geringen Umfangs des vorliegenden Materials: Es handelt sich insgesamt um 41 Schreiben; 19 davon sind Briefe, 17 Postkarten und fünf Ansichtskarten, 23 davon wurden ganz oder teilweise reproduziert. Der Umfang des Büchleins von gerade mal 124 Seiten hätte sich jedoch nur unwesentlich vergrößert, wenn man sich zu einer Reproduktion des gesamten Materials hätte durchringen können.

Die Beschränkung lässt sich nur durch ein Verlagsinteresse erklären, das eher auf eine abwechslungsreiche Publikation denn auf eine mit wissenschaftlichem Anspruch auf Vollständigkeit abzielte. Die von Erdmut Wizisla verfasste Einleitung ist umfangreich, detailliert und sehr gut geeignet als Einstieg in das Verhältnis zwischen Johnson und Ziem. Sinnvollerweise konzentriert sie sich mehr auf Letzteren - eine gewisse Vertrautheit mit der Figur Uwe Johnson darf man für einen potenziellen Leser seiner Briefe sicherlich voraussetzen. Jedoch hätte man sich zur besseren zeitlichen Orientierung etwa einen vergleichenden Lebenslauf gewünscht, denn der Einleitungstext weist keine chronologische Ordnung auf und erschwert daher das Auffinden von bestimmten Daten.

Das Material des vorliegenden Bandes umfasst den Zeitraum vom 21. März 1955 bis zum 5. Dezember 1957; der seit 1999 vorliegende Briefwechsel mit Siegfried Unseld beginnt am 13. Juli 1959. So wird das Konvolut der Briefe an Ziem auch zu einem interessanten Zeugnis der Zeit vor der Professionalisierung des Autors Uwe Johnson, die mit der Zusammenarbeit mit dem Suhrkamp Verlag und Siegfried Unseld sehr gezielt voranschreiten und schnell Früchte tragen sollte: Es handelt sich also fast schon um ein "Portrait of the artist as a young man", verfasst von ihm selbst. Das Büchlein bietet allen Johnson-Interessierten einen schönen und teils sehr amüsanten Einblick in die Jugend des Schriftstellers.

Titelbild

Uwe Johnson: Leaving Leipsic next week. Unveröffentlichte Briefe Uwe Johnsons an Jochen Ziem.
Herausgegeben von Erdmut Wizisla.
Transit Buchverlag, Berlin 2002.
128 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-10: 388747175X

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch