In der Logik des neuen Mediums

Gunther Nickel dokumentiert eine Podiumsdiskussion zur Krise der Literaturkritik

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht zu fassen. Da schlägt den Kritikern seit Lessings Zeiten die Verachtung der Autoren entgegen, da müssen sie sich mal als Hund und mal als Parasit beschimpfen oder gar in Romanen ermorden lassen. Und nun bekennt ein Autor wie Burkhard Spinnen, noch dazu in Anwesenheit namhafter Rezensenten, dass für ihn das Studium seiner Kritiken die wichtigste Auseinandersetzung über die eigenen Texte sei, ja dass er fortwährend auf der Suche sei nach jenen "spitzen, scharfen, genauen" Sätzen über sich, an denen er sich sein ganzes Schriftstellerleben lang reiben könne: "Als Autor bin ich auf die Qualität der Kritik angewiesen."

Allerdings stammt dieses freimütige Geständnis von jemandem, der selbst als Rezensent tätig und also mit der "anderen Seite" bestens vertraut ist. Über die stets heikle Beziehung zwischen Autor und Kritiker ging es bei der auf der Leipziger Buchmesse 2004 veranstalteten Podiumsdiskussion, die man jetzt in der Reihe der "Göttinger Sudelblätter" nachlesen kann, jedoch nur am Rande. Zur Debatte standen einmal mehr Situation und Zukunft "eines alten Gewerbes": der Literaturkritik. Die in Presse und Rundfunk schwindenden Räume für die Literatur sowie der Trend zum knappen Buchtipp galten einigen Beteiligten, namentlich Gunther Nickel, Wilfried F. Schoeller und Ina Hartwig, ebenso als Krisensymptome wie die auf den Seiten der Online-Buchhändler blühende Laienkritik und der Erfolg der "Kaufmotivatorin" Elke Heidenreich.

Nun sind "Kritik" und "Krise" seit jeher austauschbar. Und wie Herausgeber Gunther Nickel in seiner kenntnisreichen Einführung erinnert, wurde eine "Krise der Kritik" stets dann aufgeregt beklagt, wenn diese gerade besonders lebendig und vielstimmig war. Nach 1900 beispielsweise, als die Kerrs, Polgars, Jacobsohns rezensierten, erschien vielen der Ruf der Kritik so ramponiert, dass sogar eine eigene, wenn auch nur kurzlebige Zeitschrift zur "Kritik der Kritik" erschien.

Heute, angesichts eines weiter denn je ausdifferenzierten literaturkritischen Diskurses, dürfte die Rede von einer allgemeinen "Krise" kaum weniger unzutreffend sein. Schließlich findet inzwischen das Gespräch über Literatur in vielen verschiedenen Medien statt, auf unterschiedlichem Niveau, mit unterschiedlichen Akteuren, Bedingungen, Problemen, auch Zielgruppen. Mögen manche Räume kleiner werden, woanders erweitern sie sich geradezu ins Unendliche: im Internet. Freilich ist sie dort, wie der Online-Journalismus generell, bislang kostenlos zu haben, wird also für ihre Autoren nicht honoriert. Die Basis der Online-Literaturkritik ist der Idealismus ihrer Produzenten und die Lust, publizieren zu können, was man will: Frei von Platz- und Terminzwängen, ist im Netz ein vielstimmiger literaturkritischer Diskurs entstanden, bei dem die Grenzen von professioneller und Laienkritik ebenso verschwimmen wie die zwischen Kritik und Werbung. Essayistische Glanzleistungen, wie man sie in Zeitungen kaum noch findet, finden sich dort ebenso wie bloße Geschmacksurteile, vor allem auf den Seiten der Online-Buchhändler.

Daher ist manche Klage professioneller Kritiker besser zu verstehen, sieht man sie zunächst einmal als Beschreibung spezifischer Probleme des jeweiligen eigenen Mediums. Das gilt für die von Ina Hartwig, Literaturredakteurin der "Frankfurter Rundschau", bekundete Trauer um die aussterbende Form des Essays ebenso wie für die vom langjährigen Literaturredakteur des Hessischen Rundfunks, Wilfried F. Schoeller, beklagte Entwortung des Radios zum Dudelfunk durch inkompetente Wellenchefs. So gesehen entpuppen sich die widersprüchlichen Provokationen Tilman Krauses ("Die Welt") als angestrengtes Pfeifen im Walde und Sich-Anbiedern beim eigenen Publikum zugleich. Krause begrüßte nicht nur den Trend weg vom "langen Riemen" hin zum Buchtipp als "Fortschritt". Er war auch der einzige in der Runde, der noch immer die Existenz des "Bildungsbürgers" beschwor. Im Vertrauen darauf, dass ihm dieses mächtige kulturliebende Wesen auch in der Zukunft seine "Nische innerhalb der Zeitung" garantieren würde, genehmigte er sich dann hämische Seitenhiebe: "Ich habe noch nie eine Rundfunkkritik gehört, die geleistet hätte, was eine Printkritik leistet." Worauf der entsetzte Schoeller nur erwidern konnte: "Was reden Sie denn? Die ist doch oft identisch!"

Das Urteil, dass die professionelle Kritik viel zur sehr "im eigenen Saft kocht", folgte prompt. Thierry Chervel vom "Perlentaucher" warf ihr vor, die geradezu dramatischen Veränderungen durch das Internet zu ignorieren: "Ich glaube, es gibt im Moment [...] eine sehr spannende Unklarheit des Ortes der literarischen Öffentlichkeit." Während etwa Gunther Nickel im mangelhaften Niveau vieler "Kundenrezensionen" nur einen weiteren "Beweis für die Krise des Bildungssystems" sehen konnte, bestand Chervel darauf, dass literarische Öffentlichkeit heute eben auch bei "Amazon.de" stattfindet. Um zu überleben, müsse die professionelle Kritik lernen, in der Logik des neuen Mediums zu denken und zum Beispiel die eigenen Rezensionen über Suchmaschinen zugänglicher zu machen. Kommentar Ina Hartwig: "Das Problem ist nur, dass die Zeitungen damit nichts mehr verdienen und dass damit die materielle Grundlage meiner Arbeit in den Printmedien bedroht ist."

Titelbild

Gunther Nickel (Hg.): Kaufen! statt Lesen! Literaturkritik in der Krise?
Wallstein Verlag, Göttingen 2005.
61 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-10: 3892448566

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