Wie ein Film von David Lynch

Bernhard Kellers Roman-Debüt "Spiel im Dunkeln"

Von Ute EisingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ute Eisinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer kann sich nicht an den eigenwilligen Anfang von David Lynchs Film "Blue Velvet" erinnern, wo die Kamera einer Ameise durch die Grashalme folgt, um in ein abgeschnittenes Ohr zu kriechen? Abgetrennte Extremitäten, Fliegen, Wespen, Spinnen, Ratten und Würmer brüskieren auch bei Bernhard Keller, dessen erster Roman "Spiel im Dunkeln" von einem Kritiker als "schwarze Trüffeln" bezeichnet wurde.

Keller, der als Buchhändler in München lebt, bezeichnet sich als "anfallshaften" Lyriker. Und so kommt es, dass die erotischen Obsessionen, die seine Protagonisten fesseln, stets von Überlegungen über die Vertrauenswürdigkeit von Sprache eingeholt werden.

Weil im Klappentext von Verlockung und Obszönität die Rede ist, hat immerhin der "Playboy" das Buch empfohlen. Schließlich geht es um einen Mann, der eine Stripteasetänzerin in einem Bunker gefangen hält und gleichzeitig mit ihrer Mutter ein "Spiel im Dunkeln" aus Sprache und Körper beginnt. Wer sich auf die Beschreibung sexueller Ausschweifungen freut, wird in diesem Roman nicht auf seine Kosten kommen. Vielmehr spielt Keller - für den Schreiben "Konzentration und Aufhebung der Selbsttäuschung, es gäbe ein konsistentes Bewusstsein" ist - mit Konstruktionsprinzipien wie Spiegelungen, Symmetrie und De-Symmetrierungen der Perfektion, um letztlich dennoch den Unterschied "zwischen Sehen und Spüren", zwischen "Betrachten und Berühren", um den es zwischen Fantasie und Realität geht, im Dunkeln zu lassen.

Der Büroangestellte Lennart hat als Achtjähriger einen olympischen Wettbewerb im Münchner Stadium miterlebt. Fasziniert, wenn auch gedemütigt von den Stripteasetänzerinnen einer Diskothek dieses Ortes, der den Sonderling anzieht, entschließt er sich, in die Tat umzusetzen, was ihm seit Bubentagen vorschwebt: Lennart wählt das hübscheste der Mädchen, Nora, zum Opfer aus und richtet auf dem Olympia-Gelände einen versteckten Raum als perfektes Gefängnis her. Ein Großteil des Romans - eigentlich eine umfangreiche Erzählung - erleben wir ihn wie auch Nora abwechselnd vor der Entführung: Lennart vorfreudig und Nora in Erwartung dessen, dass sie zum letzten Mal auftreten wird. Nach dem eigentlich unspektakulären Kidnapping erweist sich die Gefangene bald als mit der neuen Situation zufrieden. Sie genießt ihre weltabgeschiedene Schönheitspflege und wartet Abend für Abend auf ihren Peiniger, der ihr die gewünschten Kosmetika mitbringt und sogar ihre Mutter, eine Apothekerin, aufsucht, damit Nora erfahre, wie diese das Verschwinden ihrer Tochter aufgenommen hat. Zu dieser Rosa, einer zurückhaltenden, gepflegten Frau, entwickelt Lennart ein anderes Verhältnis. Er verbringt regelmäßig Mittagspause und Geschäftsschluss bei ihr im engen Hinterzimmer der Apotheke, wo die beiden erzählen und bald dazu übergehen, miteinander im Dunkeln zu spielen. Die Dialoge dieser Zusammenkünfte nehmen einen breiten Raum ein und sind im Zeitkonzept des Romans ebenfalls zeitlich vorgezogen. Wir erfahren daraus von Lennarts kaputtem Verhältnis zum Vater, seiner Frauensucht und dem Wunsch nach religiöser Hingabe. Rosa erzählt immer wieder von ihrer Tochter, über deren wahren Beruf sie sich nicht im Klaren ist und mit der sie eine abnormale Liebe verbindet. Während die geile Stripteasetänzerin in der Gefangenschaft zum zufriedenen Haremsweibchen wird, entdeckt die biedere Apothekerin Rosa ihr Begehren und gefällt sich zunehmend darin, obszöne Worte in den Mund zu nehmen und Handlungen zu fordern. Durch die Entwicklungsfähigkeit des anderen Geschlechts wird Lennart, die personifizierte männliche Gewalt, selber zum Doppel-Opfer: der Anschmiegsamkeit der mannstollen Tochter, der er Gewalt antun wollte, als auch der zum Vamp mutierten Mutter, die letztlich gar ihr Kind zugunsten des Liebhabers aufgibt. Was dieser am Ende aus der Situation macht, bleibt dem Leser aus einem Puzzlespiel von Details zu eruieren. Möglicherweise tut er der Tänzerin tatsächlich an, was sie in ihrer Glanznummer dem aufgegeilten Publikum genüsslich vorgetäuscht hat.

Die Handlung ist im Koordinatensystem der Achsen Täter-Opfer und "Zerstückelung" versus "Konzentration" konstruiert. Innerhalb Lennarts verschiebt sich das Handeln von Aktiv zu Passiv. Seine Fantasie hat ihr Komplementär dagegen in einer zweiten männlichen Figur, Nick, dem gutmütigen Betreuer der Tänzerinnen. Der Türsteher und Hausmeister, der seitenlang über Staubsaugerfilter und Fahrradkugellager referiert, fühlt sich bei exakten Beschreibungen im Schutz der Fachwörter wohler als unter Menschen. Das Ideal dieses perfektionistischen Bastlers ist die Zusammensetzung, wie Lennarts die des isolierten Besitzes von Körperteilen ist. Lennart hat vor "dem Ganzen" eines Menschen Angst und stellt sich die allzu perfekt-verführerische Nora lieber "amputiert" vor. Den "Krüppel", einen Rollstuhlfahrer, der auch in Rosa verliebt ist, verachtet er hingegen - Symmetrien, die ebenso an Peter Greenaways cineastische Konzepte erinnern wie Rosas Zähl-Leidenschaft und die Manie der Nummerierung sämtlicher Markennamen, die in dem Buch vorkommen. Letztlich erhält Lennart, der selbst am liebsten von 8 spricht, die Zahl 12.

Die Kapitel des Romans sind zumeist mit "Juli" und "November" datiert. Vor allem die ersten Episoden verbinden Requisiten oder Motive, wie man das eher als dramaturgisches Mittel des Films kennt: durch eine Fliege, die erst Lennart sticht und dann von Nora erschlagen wird oder die mit rotem Stoff ausgelegte Schachtel, in der Nora die Fliege und später ihre Mutter eine Erinnerung aufbewahren möchte. Solche Konkreta werden im Lauf des Romans von Themen, Sätzen oder Worten abgelöst, die in den Gedanken der unterschiedlichen Personen immer wieder auftauchen. Aufmerksamkeit macht die Wahrheit lesen, während gesetzte Worte sie lenken oder von ihr ablenken. In der experimentellen Lyrik von Prießnitz, Wühr oder Schmatz funktionieren Verfahren, worin die Sprache scheinbar ohne vorgefasste Meinung auf Wahrheits-Erkundung geschickt wird. Im Falle des Erzählkonstrukts ist derartige Neutralität schwer durchzuhalten - noch dazu, wenn es um Obsessionen und deviate Neigungen geht: So lässt etwa Keller - was an die Filme Lynchs und David Cronenbergs erinnert - Lennart Insekten und Würmer verschlucken und beschreibt abartige Handlungen nicht anders als konventionelle. Er versieht sie sogar mit den biederen Adverbien: reizend, niedlich, putzig, entzückend. Das brüskiert. Die Hauptperson beklagt sich einmal darüber, dass die Äußerung dessen, was jemand gerade denkt, den Menschen immer als Perversling dastehen lässt. Diese Wahrheit erweist Kellers unberechenbares "Spiel" als in der Tat pervers.

Titelbild

Bernhard Keller: Spiel im Dunkeln. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
286 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3100495152

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