Die Neuzeit in neuem Licht

Eine neue Enzyklopädie nicht nur für die historischen Disziplinen

Von Ulrich NiggemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Niggemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer den nun vorliegenden ersten Band der "Enzyklopädie der Neuzeit" erstmals aufschlägt, wird sich möglicherweise zunächst einmal wundern: Im Vorwort erfährt er nämlich, dass sich das Werk, das er in den Händen hält, mit dem Zeitraum von etwa 1450 bis 1850 beschäftigt, dass mit "Neuzeit" also eine abgeschlossene und längst vergangene Epoche gemeint ist. Der im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen tätige Herausgeber, Friedrich Jaeger, legt der neuen - eine Vielzahl von wissenschaftlichen Disziplinen einbeziehenden - Enzyklopädie, die als Fortsetzung der ebenfalls im Metzler-Verlag erschienen Nachschlagewerke "Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike" und "Lexikon des Mittelalters" gedacht ist, ein Epochenverständnis zugrunde, das von dem vielfach an Universitäten und Schulen gelehrten Konzept abweicht.

Es handelt sich bei diesem Ansatz nicht um eine - insbesondere an ihrem Ende - um etwa fünfzig Jahre erweiterte Frühneuzeit, die nach der klassischen Untergliederung der Neuzeit von etwa 1500 bis etwa 1800 angesetzt wird, sondern um die Verbindung einer bis 1750 gedachten Frühen Neuzeit und einer bis 1850 immer noch vormodern geprägten Revolutionszeit, an die sich dann eine durch gesteigerte Transformationsprozesse geprägte Moderne anschließt.

Ihre inhaltliche Charakteristik erhält die zeitlich so umgrenzte Neuzeit durch ihre ausgehend vom Buchdruck gesteigerte Medialität, die Erweiterung des europäischen Horizontes aufgrund der geographischen wie auch naturwissenschaftlichen Entdeckungen, durch die Entfaltung des modernen Individualismus, durch wirtschaftliche und soziale Entwicklungen, durch die Ausbildung des modernen Staates usw. Mit dieser Betonung des Wandels als Epochencharakteristikum hebt sich der Ansatz Jaegers und seiner Mitherausgeber von einem eher auf Kontinuität vom Mittelalter bis etwa 1800 angelegten Konzept Alteuropas ab, knüpft andererseits aber doch daran an, indem die bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts vormodern gebliebene Neuzeit abgesetzt wird von der Moderne. Die runden Jahreszahlen der Epochengrenzen weisen auf den Umstand hin, dass nicht ein bestimmtes (politisches) Ereignis - etwa die Revolution von 1848 - als Zäsur gesehen wird, sondern aus einem umfassenderen kulturgeschichtlichen Blickwinkel weiche Epochengrenzen gewählt wurden, die für ein ganzes Bündel von Transformationsprozessen Gültigkeit besitzen.

Diese Herangehensweise, die in dem als Leseprobe bereits auszugsweise vom Verlag vorgelegten Artikel "Neuzeit" aus der Feder Friedrich Jaegers weiter ausgeführt wird, ist in sich durchaus stimmig und vermag daher zu überzeugen. Ob sich eine solche Epochenabgrenzung auch im institutionellen Gefüge der deutschen und außerdeutschen Geschichtswissenschaft durchsetzen wird, ist eine andere Frage.

In seinem Vorwort setzt Friedrich Jaeger das Werk bewusst in eine enzyklopädische Tradition und beruft sich auf Diderots und d'Alemberts "Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers" (1751-1780). Damit betont er sowohl den Anspruch einer Bestandsaufnahme des vorhandenen Wissens als auch den aufklärerischen Impetus eines solchen Projekts. Gerade im Hinblick auf die seit etwa fünfzig Jahren in Deutschland institutionell etablierte Frühneuzeitforschung erscheint eine solche Bilanzierung mit dem Ziel, wissenschaftliche Erkenntnisse nicht nur zu bündeln und zu systematisieren, sondern gerade auch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen und sich auf diesem Wege auch zu rechtfertigen und zu legitimieren, durchaus berechtigt und notwendig. Lässt sich doch ein hohes Maß an Diskrepanz zwischen einer stark ausdifferenzierten und aktiven Forschung und einer eher geringen öffentlichen Zurkenntnisnahme derselben feststellen. Nicht zuletzt auch in den Schulen scheint die Frühe Neuzeit verglichen mit ihrer Bedeutung in der Forschung eine zu geringe Rolle zu spielen. Somit kommt einem umfangreichen Enzyklopädie-Projekt wie dem vorliegenden stets auch eine eminente wissenschaftspolitische Bedeutung zu.

Die "Enzyklopädie der Neuzeit" konzentriert sich bewusst auf Europa, will aber auch die interkontinentalen und globalen Verflechtungen angemessen berücksichtigen. Inhaltlich soll dem kulturellen Zusammenhang aller Entwicklungen und Phänomene der behandelten Epoche Rechnung getragen werden. Zu diesem Zweck wurden zehn Themenfelder festgelegt, die von einem Stab von Teilherausgebern betreut werden. Alle sechzehn Bände inklusive Registerband sollen bis Ende 2012 publiziert werden - ein hehres Ziel, wenn man die Erscheinungsdauer manch anderer Vorhaben betrachtet.

Der nunmehr vorliegende erste Band enthält Artikel von "Abendland" bis "Beleuchtung". Dazwischen befinden sich Stichworte wie "Abenteuerroman", "Abonnement", "Aeronautik", "Ägyptologie", "Alpinismus", "Androgynität", "Angst", "Anredeformen", "Arbeit", "Archiv", "Asylrecht", "Außenpolitik", "Bank", "Barock" und "Beichte", um nur einige wenige zu nennen. Stichworte zu einzelnen Personen oder Orten fehlen hingegen völlig. Bereits an der Auswahl der Lemmata wird also die gewaltige Bandbreite und Variabilität der Forschungen verschiedenster Fachdisziplinen zur Epoche der (Frühen) Neuzeit deutlich. Ob damit freilich immer der Idee eines Nachschlagewerks gedient ist, ist fraglich, denn wer sucht in einer "Enzyklopädie der Neuzeit" nach Begriffen wie "Anatomisches Theater", tierischer "Anspannung" (gemeint ist natürlich der Gebrauch von Zugtieren) oder "Architecture parlante"? Dagegen dürfte es der Gewohnheit vieler Nutzer entsprechen, in einer Enzyklopädie gerade auch nach Personennamen zu suchen. Doch vielleicht ist es durchaus eine Aufgabe dieses Lexikons, auch zum Schmökern einzuladen und dem Leser die Möglichkeit zu bieten, dabei die eine oder andere eher exotisch anmutende Perle zu finden.

Besonders trifft dies auf eine Reihe von Artikeln zu, die einen deutlich programmatischen Charakter besitzen und in aktuelle Forschungsfragen und -debatten einführen sollen. Dies gilt vielleicht weniger für die von Martin Wrede verfassten Überlegungen zum "Absolutismus", die angesichts der neueren Diskussionen um die Brauchbarkeit dieses Konzepts noch zu zurückhaltend erscheinen. Gerade hier wäre eine deutlicher Akzentuierung der Kritik am Absolutismusbegriff im Hinblick auf die weite Verbreitung dieses Geschichtsbildes sinnvoll gewesen, auch wenn man den Begriff - wie Wrede - schlussendlich nicht völlig verwirft. Dagegen sind andere - insbesondere die umfangreichen "Schlüsselartikel" (etwa "Adel" von Gudrun Gersmann oder "Arbeit" von Josef Ehmer und Edith Sauer), denen sich oft weitere Artikel zum jeweiligen Themenfeld anschließen - deutlich programmatisch orientiert und setzen begriffs- und forschungsgeschichtlich an, sie kontextualisieren also die behandelten Begriffe im zeitgenössischen wie auch im modernen Alltags- und Forschungsdiskurs. Sehr schön ausgefallen ist in diesem Zusammenhang auch der Artikel "Atlantische Welt" (Helmut Bley/Hans-Joachim König), der eine gelungene Verbindung zwischen realgeschichtlicher Zusammenfassung und Forschungskonzeption darstellt. Dieser Ansatz ermöglicht es dem Leser, nicht nur Sachdefinitionen nachzuschlagen, sondern stets auch die sich wandelnden Diskurse nachzuvollziehen und somit einen Einblick in den Gang der Forschung zu erhalten. Problematisch wird dies nur dann, wenn sich der Artikel in der Programmatik erschöpft, wie es sich etwa bei "Agrarindividualismus" oder "Agrarkapitalismus" andeutet.

Ob es gelingen wird, den Anspruch, Wissen verschiedener Disziplinen wie auch den inneren Zusammenhang kultureller Phänomene aufzuzeigen, in einem enzyklopädischen Werk zu verwirklichen, wird sich erst mit dem Erscheinen weiterer Bände offenbaren. Insbesondere die Verweisstruktur wird dann erst ihre eigentliche Bewährungsprobe erleben. Bereits jetzt zeigt sich jedoch, dass mit der "Enzyklopädie der Neuzeit" ein vielversprechendes Projekt begonnen wurde, das deutlich mehr ist als "nur" ein Nachschlagewerk, weil ihm eine schlüssige Konzeption und eine deutlich hervortretende Programmatik zugrunde liegt, die auch dem "Laien" einen Einblick in die wissenschaftliche Theoriebildung der Disziplinen ermöglicht, die sich im weitesten Sinne mit der Geschichte der Neuzeit befassen.

Titelbild

Friedrich Jaeger (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit. Band 1. Abendland - Beleuchtung.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2005.
1186 Seiten,
ISBN-10: 3476019918

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