Verdächtige Notizen

Martin Walser veröffentlicht seine Tagebücher der Jahre 1951 bis 1962: "Leben und Schreiben"

Von Ulrich RüdenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Rüdenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Tagebücher von Schriftstellern haben gleich zweierlei Reiz: Sie können Einblick in die Werkstatt gewähren, in der über Sprache und das Rohmaterial der veröffentlichten Bücher reflektiert wird. Zugleich aber bietet das Genre für den Schreiber eine Möglichkeit, die eigene Befindlichkeit in größtmöglicher Intimität, ohne Vorgaben und Rücksichten, zu erkunden. Interessant für Dritte werden Tagebücher dann, wenn sie nachvollziehbar machen, wie vor dem Hintergrund der Biografie des Autors seine Bücher entstehen; sie zeigen ihn in einer Unmittelbarkeit des Denkens und Fühlens. Sie verorten ihn in seiner privaten Sphäre oder im Netzwerk eines Kulturbetriebs - aber immer verraten sie etwas über das vom Leser gern in den Büchern gesuchte Ich des Schreibenden. Nicht vergessen werden darf allerdings, dass das Tagebuch eine Kunstform ist: Manche Autoren sind sich früh ihrer Historizität bewusst, und so sind Dichtung und Wahrheit notwendig miteinander verknüpft. Das Authentische ist auch hier häufig Ergebnis eines Kunstwillens. Umso gespannter durfte man auf die Tagebücher von Martin Walser sein, der immerhin als einer der bekanntesten und umstrittensten Autoren der letzten 50 Jahre gelten darf.

"Leben und Schreiben" - ein von Hermann Lenz geborgter Titel - hat Walser seine Tagebuchaufzeichnungen der Jahre 1951 bis 1962 genannt. Es sind interessante Jahre für den 1951 24-jährigen Walser, weil er als aufstrebender Journalist beim Süddeutschen Rundfunk nach und nach in den Literaturbetrieb und die Autorrolle hineinrutscht. Seine ersten Romane entstehen und erscheinen, und eine Familie hat der junge Mann gleichfalls zu versorgen. Es sind aber auch spannende Jahre der Republik, gerade für einen sich auch immer wieder politisch einmischenden Autor wie Walser: Wiederaufbau, Wirtschaftswunder, Gründung der Bundeswehr, Bau der Mauer.

Aber hier ist schon die erste Enttäuschung zu konstatieren. Weder von den gesellschaftlichen Entwicklungen noch den persönlichen Verflechtungen ins literarische Geschehen der Zeit, die Begegnungen mit anderen Autoren etwa bei der Gruppe 47, erfährt man viel. Biografische Stationen werden meist stichwortartig abgehakt. Es gibt sehr gelungene, böse und luzide Personenbeschreibungen, etwa nach dem Besuch einer Silvesterparty 1956; ebenso finden sich bestechende sprachliche Selbsterkundungen des jungen, nicht selten koketten Schriftstellers, der weiß, dass ihn noch "niemand kennen" kann, dass er "noch nicht da" ist. Aber das Wörtchen "noch" verrät schon Ziel und Selbstbewusstsein.

Persönliche oder private Passagen bleiben jedoch die Ausnahme. Es geht Walser um den Rohstoff für seine Literatur. Dieser macht auch den Großteil der fast 700 Seiten aus: seitenlange Skizzen zu veröffentlichten und bisher nicht veröffentlichten Texten, Ideen zu den Romanen "Ehen in Philippsburg" und "Halbzeit", teils noch in grobem Zustand, aber schon im Walser-Ton: genaue Beobachtungen von Menschen und Verhaltensweisen, von Abgründen und Peinlichkeiten. Walser seziert seine Umgebung, und die Diagnose übersetzt er sogleich in Literatur. Schon auf den ersten Seiten heißt es: "In diesem Jahr kommt es nur darauf an, wie geschrieben wird. Das muss alles andere tragen."

Es kommt auch in den Jahren nach 1951 genau darauf an. Was ansonsten geschah, wird meist so abgehandelt: "8. und 9.1.1960, Zürs. Mit Siegfried Unseld. Ski und Schach." Oder: "4.2.1960, Konstanz. Ingeborg Bachmann". Ja, man hätte sich schon für den Anlass des Treffens interessiert und dafür, über was mit Ingeborg Bachmann oder Siegfried Unseld gesprochen wurde. Aber da hilft auch der dürre Anmerkungsapparat nicht weiter - ein wirklicher Makel dieses Bands. Wenn sich einmal die so genannte Wirklichkeit ins Leben drängt, dann wird auch das Tagebuch interessant: Zum Beispiel als ein mehrwöchiger Krankenhausaufenthalt 1957 in Ulm detailgenau beschrieben wird, das eigene Gallenleiden, das Ausgeliefertsein, die Todeskrankheit des Bettnachbarn. "Man darf sich selbst nicht vormachen, man halte etwas nicht aus", schreibt Walser. "Man darf sich nicht zum Leiden ermächtigen, dann leidet man nämlich doppelt."

Was erfährt man also Neues? Wenig eigentlich. Aber man kann auch aus diesem Tagebuch-Aufzeichnungen lernen, wie Walser seine Umwelt wahrnimmt. Hier spricht zwar, wie es im Tagebuch zu vermuten ist, ein Ich. Aber dieses Ich ist freilich immer auch ein anderer. Ob Walsers Tagebuch tatsächlich mehr Arbeitsheft als lebensnahe Mitschrift ist, lässt sich nicht ganz genau sagen. Immerhin ist es möglich, dass der Autor ausgewählt und vieles weggelassen hat. Das nämlich, was man sich, durch den Titel neugierig gemacht, erhofft hätte: mehr "Leben". Das Leben aber ist für Walser immer Literatur. Beides gehört zusammen, erklärt sich wechselseitig. Eins wird ins andere übersetzt. So verwundert es nicht, wenn er am 12. Januar 1954 notiert: "Ich komme mir lächerlich vor, wenn ich mir immer aufs Maul schaue, ob nicht irgendwas Gescheites herauskommt. Materialsammler geht noch, aber Tagebuchschreiber, das ist verdächtig."


Titelbild

Martin Walser: Leben und Schreiben. Tagebücher 1951-1962.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2005.
666 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3498073559

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