Die Welt weit hinter Dukla

Andrzej Stasiuk bereist in seinem neuen Buch eine Terra incognita

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Johannes Bobrowski, der seinerzeit in beiden Teilen Deutschlands beachtete Dichter, arbeitete unter dem vorläufigen Titel "Sarmatischer Divan" an einer poetischen Vision Osteuropas. In einem Brief an Peter Huchel vom 1. Juni 1956 formuliert er sein Vorhaben: "[Ich möchte] im Lauf der Jahre eine Art Sarmatischen Divans zusammen bringen, worin das Land zwischen Weichsel und Ural mit seinen Völkern, mit Historie und Landschaft ungefähre Gestalt bekommt. Und eben die Rolle meines Volkes darin." Auch wenn er sein Projekt nicht zu Ende geführt hat, so hat Bobrowski in zwei schmalen Bänden doch eine ganze Reihe von Gedichten versammelt, welche die sarmatische Ebene, die osteuropäische Landschaft und ihre Menschen besingen. Damit hat der Dichter eine Art Osterweiterung avant la lettre betrieben, eine poetische freilich, und dadurch für die deutschsprachige Lyrik neue Räume erschlossen.

Wenn man die verlegerischen und literarischen Aktivitäten des Polen Andrzej Stasiuk verfolgt, so entsteht manchmal der Eindruck, der Schriftsteller sei mit der Umsetzung eines ganz ähnlichen Projekts befasst. In seinem Verlag wydawnictwo czarne im südostpolnischen Wolowiec veröffentlicht er Autorinnen und Autoren, die ihre Wurzeln in der Region zwischen Ostsee, Adria und Schwarzem Meer haben: den Ukrainer Jurij Andruchowytsch, die Tschechen Bohumil Hrabal oder Jáchym Topol, Dubravka Ugrešic aus Kroatien, aber auch die Rumäniendeutsche Herta Müller oder die in Bukarest geborene Schweizerin Aglaja Veteranyi. Damit macht er seinen polnischen Landsleuten ein der eigenen Heimat zwar benachbartes, aber doch oft unbekanntes Osteuropa literarisch zugänglich.

Nun hat sich Andrzej Stasiuk auch selbst auf Reisen begeben. Immer wieder hat er den Osten des Kontinents erkundet, eine Welt noch viel weiter hinter Dukla oder Galizien, die er in früheren Büchern heraufbeschworen hatte. "Unterwegs nach Babadag" versammelt eine Reihe von Texten über eine Terra incognita, ein in Stasiuks Augen weitgehend vergessenes Europa. Die vierzehn Texte waren zum Teil schon vorher als publizistische Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht worden. Für das Buch, welches im polnischen Original 2004 erschienen ist, hat Stasiuk im vergangenen Oktober den gegenwärtig bedeutendsten polnischen Literaturpreis erhalten: die alljährlich verliehene "Nike". Die literarische Öffentlichkeit in Polen hat unterschiedlich auf die Nike für "Unterwegs nach Babadag" reagiert. Einige Kritiker meinten, es sei gewiss nicht Stasiuks bestes Buch.

"Hilfsländer" nennt Stasiuk Moldawien, Rumänien, Albanien oder die Slowakei resigniert; ihre Bewohner sind "Nationen aus zweiter Hand" und "Reservevölker". Was Stasiuk zu interessieren scheint, ist aber gerade die Atmosphäre des Untergangs, des unablässigen Verschwindens, des Endes. Sein blickt registriert denn auch vornehmlich das Trostlose, er sucht abgelegene und sterbende Gegenden auf. Pulsierende Städte hingegen, die für eine positivere, dynamische Seite Osteuropas stehen könnten, wie sie gegenwärtig ja auch existiert, meidet er. Möglicherweise tut er dies unbewusst. Und wenn er doch einmal in eine Stadt fährt, etwa nach Tiraspol in Transnistrien, dann sieht diese aus "wie Peripherie".

Es ist nicht ganz einfach, Stasiuks Texte einer Gattung zuzuordnen. Sie weisen gelegentlich faktografische, journalistische Züge auf, als wollten sie zunächst einfach von den Reisen Bericht erstatten. Auf der anderen Seite aber wählt Stasiuk eine literarische Erzählweise, die immer wieder die Zeiten und Räume sprengt. In den Bericht der Reise nach Babadag im Donaudelta brechen unvermittelt Erinnerungen an eine frühere oder spätere Fahrt nach Albanien ein. Das ist Programm. Die Mischgattung zwischen Reportage und Literatur könnte zwar gerade den Reiz der Texte ausmachen, sie ist aber auch nicht unproblematisch: Soll hier suggeriert werden, der Osten Europas sei letztlich überall gleich? Auf seinen Reisen spürt Stasiuk jedenfalls Bilder auf, die sich immer wieder ähneln. Falls der Autor mit seinem Buch auch ein gewisses aufklärerisches Projekt verfolgt, nämlich breitere Kreise besser über Osteuropa zu informieren, kann ihm dies jedenfalls nur schwer gelingen, wenn er das Vorgefundene allzu stark durcheinander mischt. Vielleicht hätte der Autor hier genauer zwischen Reisebericht und Reiseerzählung unterscheiden müssen.

Schön gelingt Stasiuk der Einsatz mancher Motive, die er immer wieder in die Texte einflicht: So sammelt er auf seinen Reisen Zigarettenmarken und trinkt sich durch die Bierfässer und Schnapskneipen der besuchten Länder. Zwischendurch sinniert er über die nationalen Größen, die auf den jeweiligen Banknoten abgedruckt sind. Überhaupt werden Stasiuks Berichte dann am anschaulichsten, wenn er sich auf die Spuren berühmter Söhne (aber leider kaum von Töchtern) der Region begibt. In Siebenbürgen findet er den Geburtsort des französischen Philosophen Emil Cioran (1911-1995), der selber ein Reisender durch Länder und Kulturen war. Zu einem Symbol für Stasiuks Reisen werden schließlich die 167 Stempel im Pass, einer für jeden Grenzübertritt. Hier prahlt Stasiuk, der Vielgereiste, aber wohl auch ein wenig.

In stilistischer Hinsicht löst das Buch hie und da ein Unbehagen aus, was aber nicht der Übersetzung angelastet werden kann. Das Problem liegt im Original selbst. Die aufdringlichen und oft wiederkehrenden, nicht gerade eleganten Satzanfänge wie "Nicht ausgeschlossen, dass" oder "Gut möglich, dass" hat Renate Schmidgall in ihrer Übertragung natürlich zu Recht nicht geglättet.


Titelbild

Andrzej Stasiuk: Unterwegs nach Babadag. Roman.
Übersetzt aus dem Polnischen von Renate Schmidgall.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
300 Seiten, 22,80 EUR.
ISBN-10: 3518417274

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