Nochmal davongekommen

Jörg Böckems Buch "Lass mich die Nacht überleben" erzählt von der Heroinabhängigkeit des Autors

Von Judith LechnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Judith Lechner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"An diesem Morgen habe ich eine Ader an meinem linken Handgelenk entdeckt, die noch nicht zerstört ist. Für ein zwei Tage werde ich sie noch benutzen können. Normalerweise wage ich schon seit längerem nicht mehr, mir auch in der "Spiegel"-Toilette eine Spritze zu setzen. In den letzten Monaten ist die Prozedur so langwierig und blutig geworden, dass das Risiko aufzufallen, mir zu groß erscheint. Doch wenn ich einen ganzen Tag in der Redaktion verbringen muss, bleibt mir keine andere Wahl. Mein Körper verlangt nach der Droge, ohne sie stehe ich Konferenzen und Besprechungen nicht durch.

In der Redaktion rauche ich meistens mein Heroin, entweder im Büro oder auf der Toilette."

Mit dieser Episode, in der Jörg Böckem fast von seiner Sekretärin im Büro des Hamburger Spiegel-Gebäudes beim "fixen" (umgangsprachlich für die Injektion des Heroins) auf frischer Tat ertappt wird, beginnt Böckem die unglaubliche Geschichte über seine Drogensucht. Unglaublich deshalb, weil Böckems Drogensucht keine klassische Junkiegeschichte ist, er endet nicht mit einer Spritze im Arm am Hauptbahnhof und muss sich auch nicht für seinen "Stoff" prostituieren.

Jörg Böckem ist heute Ende dreißig und ein bekannter freischaffender Journalist, der für bekannte Zeitungen schreibt, wie die "Zeit" oder dem "Spiegel". Er ist bekannt geworden durch Interviews und Reportagen, die er Jahre lang unter dem Einfluss einer der schlimmsten Drogen unserer Zeit verfasst hat. Heroin.

Heroin ist eine der aggressivsten und besitzergreifenstet Drogen, die nach jahrelanger Abhängigkeit, Körper und Seele komplett zerstört. Betrachtet man Jörg Böckem heute, sieht man die Spuren, welche die Droge hinterlassen hat deutlich, ohne genauer hinsehen zu müssen. Um so erstaunlicher erscheint es, dass dieser Mann in seinen zwanzig Jahren Drogenabhängigkeit nicht vor die Hunde gegangen ist, sondern sich einen Namen in der Journalisten-Szene gemacht hat.

In einem Interview mit "Netzeitung", einem Magazin aus dem Internet, gibt der Autor zu:

"Die Idee über einen Teil meines Lebens ein Buch zu schreiben, hatte ich schon sehr lange im Kopf. Auch weil es einfach eine gute Geschichte ist. In Unterhaltungen habe ich gemerkt, dass es Spaß macht, sie zu erzählen..."

Und wie man den Erzählungen seines Buches entnehmen kann, hat es ihm wohl auch längere Zeit Spaß gemacht Drogen zu nehmen. Allerdings fällt es schwer zu verstehen, was daran Spaß macht, sich selbst einzugestehen was für ein mieser, asozialer Mensch man war. Rückblickend mag zwar die ein oder andere Episode amüsant gewesen sein, aber über sehr lange Zeit dominierten Leid, Sucht und Aggression Böckems Leben. Diese Faktoren dominieren auch die Darstellung der Sucht in seinem Buch. Man darf Böckem nicht falsch verstehen. Er beschönigt die Sucht nicht, er beschreibt sie schonungslos:

"Nach Feierabend fuhr ich zu meinen Eltern. Ich schloss mich auf der Toilette ein und versuchte, mir mein letztes Heroin für den Tag zu injizieren. Aber ich konnte keine intakte Vene finden, die einzige Stelle, die viel versprechend aussah, befand sich an einer Stelle an meinem linken Oberarm, die ich nicht erreichet konnte. Nach einer halben Stunde gab ich entnervt auf. Ich schloss die Badezimmertür auf und rief meine Mutter.

"Ich treffe keine Ader", sagte ich ihr und hielt ihr die Spritze hin, die Flüssigkeit im Inneren war schon mit Blut vermischt, das bald verklumpen würde. "Mach du das. Du hast doch früher als Arzthelferin gearbeitet, du weißt doch, wie das geht." Sie sah mich an, völlig entsetzt. "Bist du verrückt?", stammelte sie, am ganzen Körper zitternd.

"Stell dich nicht so an", schrie ich. "Hilf mir verdammt."

Solche Episoden hinterlassen bei dem Leser ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Böckem erzählt seine Lebensgeschichte mit allen Höhen und Tiefen, er schont weder sich selbst noch seine Familie. Genau das sind die Personen, die am meisten unter Jörg Böckems Sucht zu leiden hatten: Seine Eltern, ganz besonders seine Mutter.

Seinen Eltern widmet er das Buch. Jörg Böckem übernimmt mit seinem Buch die volle Verantwortung für seine Taten, und er zeigt den Menschen, die durch ihn zu Opfern wurden, wie zum Beispiel seine Mutter, dass er seine Fehler einsieht. Er versucht nicht sich selbst zu entschuldigen, er bittet um Verzeihung. Dieses Buch ist auch kein Versuch die Verantwortung für seine Drogenabhängigkeit abzuschieben oder sich selbst als Opfer der Gesellschaft zu stilisieren. Viel mehr zeigt das Buch, das unter einer gewöhnlichen Fassade tiefe Abgründe stecken können, die wir trotz täglichem Umgang miteinander nicht sehen, oder nicht sehen wollen.

Jörg Böckems Buch ist interessant und spannend erzählt. Die schonungslosen Schilderungen, beispielsweise die detaillierte Beschreibung der Entzugserscheinungen, wo " stinkender Schweiß [...] aus allen Poren" bricht, zeigen die Abgründe der Heroinabhängigkeit auf. Die Sprache, die Böckem für seine Geschichte wählt, ist einfach und hat ein jugendliches Flair, was dadurch suggeriert wird, dass Böckem immer wieder damals aktuelle Songtexte einbaut, um den Zeitbezug herzustellen, und sein damaliges Lebensgefühl verstärkt darzustellen.

Jörg Böckems Buch ist keinesfalls drogenverherrlichend, aber als abschreckendes Beispiel für Schulklassen zur Drogenaufklärung würde kann man es nicht empfehlen. Zu deutlich sieht man, das es einen Weg gibt mit der Sucht durch zu kommen, ohne wirklich alles zu verlieren, so lange die Umwelt die Person nicht auf gegeben hat. Dies ist allerdings nicht der klassische Weg eines Junkies, der meist in der dunklen Ecke des Bahnhofklos mit einer Überdosis endet. Jörg Böckem hat wahrlich mehr Glück als Verstand gehabt. Dieser Tatsache und seiner verspäteten Einsicht verdankt er sein Leben.

Titelbild

Jörg Böckem: "Lass mich die Nacht überleben". Mein Leben als Journalist und Junkie.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2004.
232 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3421057753

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