Geheimnisvolle Familienporträts

Die österreichische Autorin Andrea Grill zeichnet nahe und ferne Verwandte

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das "Familienalbum" beginnt mit der Großmutter. Zu ihr, die denkt, immer jünger zu werden, 23 statt 85, findet die Enkelin einen wunderschönen Kontakt, wenn sie sie nicht zurechtweist oder ihr aufzeigen will, dass das, was sie erzähle, nicht stimmen könne. Die Begegnungen mit der alten Frau, die sich wahrscheinlich - wie alle ihrer Generation - nie ganz vom Krieg erholt hat, wecken bei der Ich-Erzählerin Erinnerungen an die eigene Kindheit, an frühere Besuche bei ihr. Kleine Fertigkeiten hat sie von ihr gelernt, zum Beispiel, "wie man am Ende eines Fadens einen Knoten macht". "Es funktioniert immer noch, und jedes Mal, wenn ich mir einen Knopf annähe, mache ich, bevor ich die Nadel durch den Stoff ziehe, erst den Knoten meiner Großmutter am Ende des Fadens." So liebevoll wird das Porträt der alten Frau gezeichnet, wie es wohl eine Enkelin besser kann als eine Tochter, fallen doch die schwierigen Eltern-Kind-Konflikte, die Abhängigkeiten und Auflehnungen weg.

Beim Großvater werden die Familienbeziehungen komplizierter. Denn er ist "der Bruder des anderen Großvaters und damit eigentlich mein Großonkel". Mit ihm verbindet die Erzählerin das Halmaspiel der beiden Großväter in der Küche. Von ihm lernt sie viel über die Fauna - "er war Gärtner und wusste alle lateinischen Namen der Pflanzen" - und dass man nur gesund bleibe, wenn man täglich mindestens eine Stunde spazieren gehe. Dass er dies im Krankenhaus, in das er gekommen ist, weil er auf einem dieser Spaziergänge gestürzt war, nicht mehr kann, dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, dass er nicht mehr nach Hause kann, sondern in ein Pflegeheim umziehen muss, wo er sich seine Unabhängigkeit bewahren will. Mit dem Rollwägelchen bricht er wieder täglich zu seinen geliebten Spaziergängen auf, und er vermag die Angehörigen ganz schön vor den Kopf zu stoßen, indem er die Bankangestellte davon überzeugen kann, dass nur er allein Zugriff zu seinem Konto haben dürfe.

Die 1975 in Bad Ischl geborene Andrea Grill zeichnet in ihrem Erstling einfühlsame Porträts einer Familie. In den kürzeren Erzählungen, in denen jeweils ein Familienmitglied im Mittelpunkt steht, gelingt es ihr, die wesentlichen Eigenschaften einer Person zu skizzieren. Die Figuren werden vor unserem inneren Auge lebendig, wir sehen sie in ihren Alltagsverrichtungen, wir lernen ihre Vorlieben und Ablehnungen kennen, wir nehmen teil an Schicksalsschlägen oder freudigen Ereignissen. Vieles mag mancher Leserin, manchem Leser bekannt vorkommen. Erinnerungen an die eigene Mutter, mit der man, als sie älter, vergesslicher und verwirrter wurde, ähnliche Begegnungen erlebte, werden wach. Aber auch den Onkel, dessen Lieblingsfarbe "Beige" ist, der homosexuell ist, worüber aber nicht laut gesprochen wird, oder den Freund des Hauses, der täglich zu Besuch kommt, gibt es in vielen Familien. Zur Familie gehören übrigens auch so nahe stehende, jedoch nicht verwandte Charaktere wie der Friseur oder der Nachbar, der "mir aber weitaus vertrauter [war] als die Cousins, die ich nur sah, wenn jemand starb oder einer von ihnen Vater wurde". Der schmale Band ist reich an vielen kleinen Beobachtungen und bietet eine Fülle an Episoden, die bewirken, dass das Gelesene noch lange nachhallt. Besonders eindrücklich gelingt es der Autorin, die Familiengeheimnisse, die oftmals allen bekannt sind, worüber aber nicht gesprochen wird, zu beschreiben, ohne sie jedoch preiszugeben. Gänzlich im Dunkeln bleiben jedoch die Eltern, sie fehlen in diesem Familienalbum.


Titelbild

Andrea Grill: Der gelbe Onkel. Ein Familienalbum.
Otto Müller Verlag, Salzburg 2005.
132 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3701311056

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