Mitten im Leben sind wir von Bildern umfangen

Klaus Sachs-Hombach steckt mit einem Sammelband das Spektrum einer allgemeinen Bildwissenschaft ab

Von Rainer ZuchRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Zuch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit der Ausrufung des "pictorial turn" und des "iconic turn" ist einige Zeit vergangen. Inzwischen beschäftigen sich die verschiedensten Wissenschaften disziplinär und interdisziplinär mit Bildern und Bildproduktion. Was aber nach wie vor fehlt, ist ein theoretisches Programm, welches die Konstitution einer Bildwissenschaft als fachübergreifende Untersuchung des vielfältigen Phänomens Bild erlauben würde.

Wenn Herausgeber Klaus Sachs-Hombach in seinem als Handbuch gedachten Sammelband von "Bildwissenschaft" spricht, hat er keine eigenständige Disziplin im Sinn, sondern einen gemeinsamen Theorierahmen und ein interdisziplinäres Forschungsprogramm. Es erscheint auch sinnvoller und realistischer, ein Instrumentarium zur Verfügung zu stellen, welches innerhalb der großen Zahl von Disziplinen, die mit Bildern umgehen, genutzt werden kann, als ein eigenes bildwissenschaftliches Fachgebiet etablieren zu wollen. Das beeindruckende Spektrum, aus dem Sachs-Hombach seine Autoren heranzieht, zeigt die Breite und den gegenwärtigen Stand bildwissenschaftlicher Diskussionen.

Nun ist der Begriff "Bild" so vielfältig konnotiert, dass der Anspruch, einen vollständigen Überblick zu schaffen, nicht einmal den Hauch einer Chance hätte. Sachs-Hombach beschränkt sich denn auch auf Bilder im engeren Sinne, die er als visuell wahrnehmbar, artifiziell und relativ dauerhaft definiert. Damit scheiden Phänomene wie Sprach-, Traum- oder Wolkenbilder aus.

Die einzelnen Disziplinen werden zusammengefasst als "Grundlagendisziplinen", "historisch orientierte", "sozialwissenschaftliche" und "anwendungsorientierte Bildwissenschaften". Abgerundet wird die Aufstellung mit einem Teil zur "Praxis moderner Bildmedien". Den Grundlagendisziplinen ordnet Sachs-Hombach diejenigen Disziplinen zu, denen die Auseinandersetzung mit dem Bild als Phänomen wie auch als Gegenstand der Wahrnehmung und Erkenntnis ein zentrales Anliegen ist: Kognitions- und Kommunikationswissenschaft, Kunstgeschichte, Mathematik, Medienwissenschaft, Neurowissenschaft, Philosophie, Psychologie, Rhetorik und Semiotik. Bei den historischen Wissenschaften sind es neben der Geschichte Archäologie, Ethnologie und Theologie, unter sozialwissenschaftlichen Ansätzen sind Erziehungs-, Kultur-, Rechts-, Politikwissenschaft und Soziologie zu finden, die anwendungsorientierten umfassen Computervisualistik, Kartografie, Typografie und Werbungsforschung, und bei den modernen Bildmedien finden sich bildende Kunst, Kommunikationsdesign, Fotografie, Film und Fernsehen sowie "neue Medien".

Die Zuordnungen der Einzelwissenschaften zu den Oberbegriffen erscheinen im Großen und Ganzen schlüssig. Beispielsweise ist die Kunstgeschichte eine Grundlagendisziplin par excellence, aber eine historische Wissenschaft ist sie ebenso, ja als eine der fundamentalsten Bildwissenschaften überhaupt greift sie in sämtliche der angegebenen Bereiche aus. Leider beschränkt sich Steffen Bogen in seinem Text zur Kunstgeschichte auf die Darstellung neuerer theoretischer Entwicklungen und gibt der mindestens ebenso wichtigen langen kunstgeschichtlichen Theoriegeschichte nur sehr wenig Raum - für eine knappe und präzise Darstellung der Ikonographie und Ikonologie Erwin Panofskys schlage man deshalb in Thomas Kniepers Beitrag zur Kommunikationswissenschaft nach.

In ihrem philosophischen Beitrag entwerfen Sachs-Hombach und Eva Schürmann ein theoretisches Gerüst, welches als Grundlage eines interdisziplinären bildwissenschaftlichen Forschungsprogramms geeignet erscheint. Tom Holerts Text zur Kulturwissenschaft / visual culture greift für eine Bildwissenschaft grundsätzliche Positionen auf, so dass sich der geneigte Leser fragt, warum sein Beitrag den Sozialwissenschaften und nicht den Grundlagendisziplinen zugeordnet wurde. Warum dort wiederum die Mathematik zu finden ist, wird auch nach Lektüre des Beitrags nicht ganz klar.

Die Beiträge sind sich im Aufbau dankenswerterweise sehr ähnlich. Im Allgemeinen gibt es eine kurze Einführung in das Sachgebiet, eine Darstellung des jeweiligen Bildbegriffs und eine knappe Diskussion der fachspezifischen Methoden.

Dabei verwundert es überhaupt nicht, dass sich teilweise erhebliche Unterschiede und Widersprüchlichkeiten zwischen den einzelnen Fachgebieten zeigen. Die aufgeführten Wissenschaften arbeiten mit unterschiedlichen Bildern bzw. visuellen Repräsentationen und mit ebenso verschiedenen Bildbegriffen. Die Analyse von Fotografien, Gemälden, Filmen, Piktogrammen, Diagrammen und naturwissenschaftlichen bildgebenden Verfahren einerseits und verschiedenen bildnerischen Medien andererseits zeigt das immense Spektrum, das eine Bildwissenschaft zu bewältigen hat. Leider werden die verschiedenen Ansätze kaum miteinander verbunden. Der Umstand etwa, dass die Kommunikations- und die Medienwissenschaft, die Semiotik, die Soziologie, die Kulturwissenschaft und der Beitrag zu "Film und Fernsehen" sich mit dem Film beschäftigen, hätte interessante Querbezüge ermöglicht, die über knappe Verweise auf andere Beiträge hätten hinausgehen können. Dennoch wird die Methodenvielfalt klar, mit der man unter dem Oberbegriff "Bildwissenschaft" ein Medium analysieren kann. Ein anderer Fall stellt die Korrelation der kunstgeschichtlichen Beiträge dar, wobei sich der theoretische Text von Bogen und der praxisorientierte Beitrag über bildende Kunst von Reichle ergänzen.

Manche Beiträge erwecken ganz aktuell die Hoffnung auf die Überwindung von Fachgrenzen. Aus eigener Erfahrung weiß der Rezensent, dass für viele Historiker die Kunstgeschichte bis heute aus böhmischen Dörfern besteht. Jens Jäger scheint einer der leider noch wenigen Historiker zu sein, die sie zur Kenntnis genommen haben, aber auch er stellt methodische Forderungen auf, die in der Kunstgeschichte schon lange eingelöst sind.

Die methodischen Probleme einer Bildwissenschaft zeigen sich zudem darin, dass derzeit noch keine gemeinsame Grundlage in Sicht ist, auf der sich ein verbindliches Bildverständnis gründen könnte. So gibt es widersprüchliche Auffassungen darüber, ob jedem Bild als visueller Repräsentation der gleiche Eigenwert zugesprochen werden kann (etwa in den Beiträgen zur Kulturwissenschaft, Kunstgeschichte oder Semiotik), oder ob mittels einer Urbild-Abbild-Relation eine bildnerische Hierarchie erstellt wird, ob es also "richtige" und "verfälschte" Bilder gebe (etwa Geschichte oder Kommunikationswissenschaft), wobei sich diese Frage sowohl in der bildwissenschaftlichen Theorie wie auch anwendungspraktisch stellt. Gerade die zweite Auffassung wird nicht selten mit einer gewissen bildanalytischen Naivität vertreten. Thomas Kniepers Beitrag zur Kommunikationswissenschaft etwa stellt kenntnisreich bildmanipulatorische Techniken zusammen, wobei er auf die sich in der Bildpraxis entfaltenden dahinterstehenden Absichten eingeht, streift aber die eigentlich interessante Frage nach der grundsätzlichen Konstruiertheit medialer Bilder nur. In einer Bildwissenschaft muss aber genau dies eine der grundsätzlichen Fragen sein.

Über den fast vollständigen Verzicht auf Fallbeispiele kann man geteilter Meinung sein. Die nötige Knappheit der Darstellungen lässt zwar die nahezu ausschließliche Orientierung an der Theorie schlüssig erscheinen, Bildanalysen hätten aber zeigen können, wie die verschiedenen Begrifflichkeiten am konkreten Objekt funktionieren. Nur Holert zeigt in seinem Beitrag über Kulturwissenschaft / visual culture, wie dies trotz der Kürze funktionieren kann.

Sachs-Hombachs Sammelband kann für sich in Anspruch nehmen, die Vielfalt der bildwissenschaftlich relevanten Ansätze zu präsentieren. Er macht dabei nachhaltig klar, dass das Phänomen Bild nur interdisziplinär zu begreifen ist. Zugleich belegt der Band aber die zahlreichen Widersprüchlichkeiten und gegenseitigen Ignoranzen, die bis zur Schaffung einer Bildwissenschaft als gemeinsamem Theorierahmen noch zu überwinden sind. Es scheint noch nicht einmal grundlegend geklärt, was ein Bild überhaupt sei und wie es "funktioniere". Aber auch das ist ein Ergebnis: Vielleicht ist eine verbindliche Bestimmung von "Bild" überhaupt nicht zu erreichen.

Das Buch ist eine lohnende Anschaffung für alle, die sich einen Überblick über die bildwissenschaftlichen Diskurse in den verschiedenen Disziplinen verschaffen wollen. Bis zu einem allgemeinen Bildverständnis und zu einer interdisziplinären Bildwissenschaft ist aber noch viel zu tun.


Titelbild

Klaus Sachs-Hombach (Hg.): Bildwissenschaft. Disziplinen, Themen, Methoden.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
431 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3518293516

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