Verschrobene Vorstadtwelt

Guy Helmingers Erzählungen "Etwas fehlt immer"

Von Heike HermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heike Hermann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sympathieträger sind sie nicht gerade, die Figuren in Guy Helmingers Erzählungen "Etwas fehlt immer". Sie heißen Bruno Felder, Gerd Flaumer oder einfach nur Warn oder Apf und leben in einer Vorstadtsiedlung, die heimgesucht wird von einer erbarmungslosen Hitzewelle: "Jemand kochte die Welt, die Fassaden schwitzten, Vögel kokelten in den Dachrinnen." Ein unbehaglicher Ort, nicht nur weil die Sonne sich "wie eine Kugel Flüssigeisen aus dem Hochofen" über die Häuser schiebt und wie eine latente Bedrohung stundenlang in "einer Ecke des Himmels" stehen bleibt. Die eigentliche Verunsicherung geht von den Menschen aus, die Helminger in miteinander verwobenen Geschichten beschreibt. Sie gehen abstrusen Beschäftigungen nach, sind psychopathisch oder einfach nur verschroben. Eine sonderbare Vorstadtwelt tut sich da auf, in der sich das normal Erscheinende ganz unmotiviert in eine Katastrophe verwandeln kann und sich verdächtige Verhaltensweisen doch nur als harmlose Marotten herausstellen.

Irritierend ist die Atmosphäre zwischen Komik und Bedrohung. Zu oft wird man auf eine falsche Fährte gelockt, als dass einem dieses kuriose Personal noch geheuer sein könnte. Doch auch die Welt um sie herum scheint ungewohnten Gesetzen zu folgen. Jedenfalls bleibt offen, ob es sich in der Erzählung "Geklärt" bloß um eine Wahnvorstellung handelt, wenn Wampach nach dem Gang zum Zigarettenautomaten verdutzt feststellt, dass in seiner Wohnung eine Familie mit Namen Wertkamp lebt. Immerhin hat er damit endlich das Geheimnis gelüftet, "was es mit den Leuten auf sich hat, die Zigaretten holen und nicht wiederkommen".

Mit Menschenkenntnis oder psychologischem Spürsinn kommt man hier ohnehin nicht weit. Selten erfährt man, was diese Figuren zu ihrem eigenwilligen Verhalten treibt. So lässt sich Martin Bleims Dunkelheitsphobie ausnahmsweise auf ein traumatisches Erlebnis zurückführen. Er wurde als Kind im dunklen Keller eingesperrt: Eine Strafmaßnahme des Vaters. Nun inszeniert er jeden Abend einen gewissenhaften Hausrundgang, schaltet Flurleuchten, Lüster, Steh- und Leselampen, Abzugshaubenlicht und Taschenlampen ein und ergötzt sich an seiner strahlenden Zimmerdecke, einer "kosmischen Deponie mit zu eng gelagerten Sternen".

Ansonsten ist in Helmingers Welt das Absonderliche selbstverständlich. So wundert sich auch die fremde Frau nicht, die Rino Polokatt in seine Wohnung begleitet, dass in seinem Wohnzimmer ein Golden Retriever mit zusammengebundenen Hinterpfoten an einem Haken von der Decke herunter hängt. Ihr fällt beim Anblick des Tieres lediglich ein, dass sie keine Hunde mag, "schon gar nicht in der Wohnung". Auch Leo Flamm, von Beruf Friedhofsgräber, erholt sich erstaunlich schnell vom Anblick seiner Geliebten Marie, der überraschenderweise der Kehlkopf und der halbe Hals fehlt, als er nichtsahnend von einem Einkauf zurückkehrt. Aber keine Angst, nicht alle Erzählungen enden derart blutig. Frank Perl zum Beispiel ist ein netter Kerl und dazu noch Pelargonienfan, auch wenn er ab und zu seinem Hobby nachgeht, fremden Leuten beim Fahrradfahren einen leichten Schlag auf den Hinterkopf zu versetzen.

Die grausigen Überraschungsszenen machen auch nicht die Stärke der Erzählungen aus. Gelungener sind die feinsinnigen, subtileren Momente, in denen der eigenwillige Humor Helmingers immer neue kuriose Blüten hervorbringt. Komisch schräge, aber auch wunderbar kreative Metaphernschöpfungen machen die Szenerien lebendig. Dabei wird dem Licht, das ohnehin die heimliche Hauptrolle spielt, eine besondere Aufmerksamkeit zuteil. Das Licht greift als agierende Instanz ein, wird zum "Rettungsreifen" oder bedrängt mit gierigen Umarmungen. Es "hockt" in einer Innenhofecke, "schlitzt" sich durch Fensterscheiben oder "seesternt" von der Decke. So bilden die vielfältigen Erscheinungsformen des Lichts ein atmosphärisches und untrügliches Sinnbild der Ereignisse, wenn auch sonst vieles im Dunkeln bleibt.

Wer eine Vorliebe für skurrile Gestalten hat und auch vor drastischen Überraschungen nicht zurückschreckt, dem werden Guy Helmingers Erzählungen Vergnügen bereiten. Ansonsten kann man sich an einer phantasievollen Sprache erfreuen, in der man gerne weitere Geschichten, vielleicht etwas weniger blutrünstige, lesen möchte.


Titelbild

Guy Helminger: Etwas fehlt immer. Erzählungen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
272 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-10: 3518417088

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