Anpassung bis zum Selbstverlust

Annette Mingels' Roman über unmögliche Liebe und das Scheitern einer Freundschaft

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Liebe zwischen dem alten Mann und dem jungen Mädchen ist nicht nur ein Gemeinplatz der Literatur, die Paarung ist eine verbreitete soziale Tatsache. Auf so eine Konstellation reagieren Männer spöttisch-respektvoll, Frauen verzweifelt-wütend, und beide Gruppen hecheln sie mit Ausdauer durch. Das umgekehrte Verhältnis dagegen provoziert selbst heute oft Ablehnung oder sogar Abscheu. Dabei wurde das Thema schon vor vielen Jahren im Kino eindrucksvoll gestaltet. Ohne moralische Bewertung, ohne Erklärung und bezwingend wahrhaftig zeigt Agnès Varda in "Meine Zeit mit Julien", wie sich eine amour fou zwischen einer Vierzigjährigen und einem Vierzehnjährigen entwickelt.

Mit einer gewissen Freude am Risiko kann es zu tun haben, wenn nun Annette Mingels, in deren letztjährigem Roman "Das ist die Liebe der Matrosen" eine Lehrer-Schülerin-Affäre vorkam, die Problematik in einer Figur zusammenführt. Denn in ihrem neuen Roman "Der aufrechte Gang" geht die Studentin Ruth erst eine Beziehung mit ihrem 20 Jahre älteren Professor (Sven) ein, nach etwa 15 Jahren Ehe und dem Tod des Mannes entwickelt sich dann eine Affäre mit dem 20 Jahre jüngeren Sohn Willy ihrer Freundin Simone. Das Verhältnis der beiden "besten" Freundinnen, die doch immer wieder rivalisieren, ist in dem Buch ein wichtiges Nebenthema.

Nicht das soziale Phänomen extremen Altersabstands beschreibt Mingels, sondern die psychischen Begleiterscheinungen. Sehr gelungen sind hier besonders manche Sven-Ruth-Szenen, in denen die heikle Balance erkennbar wird zwischen Liebe und Lust, zwischen Sicherheit und Risiko, zwischen gegenseitigem Begehren und einer manchmal harschen Vater-Tochter-Beziehung, die besonders nach Ausbruch der Krankheit das Übergewicht bekommt, weil Sven sein Sterben zur Privatsache erklärt. Ruths Liebe zu dem minderjährigen Willy wird, fast entschuldigend, durch die Ausnahmesituation mehrfach motiviert: Ruth ist besonders haltlos, denn ihr Mann ist vor vier Monaten gestorben, dann gibt es über Simone eine gemeinsame emotionale Bindung, eine Reise zu dritt bedingt eine gewisse Intimität, und schließlich erlaubt die Fremde allerlei Freiheiten. Die Annäherung der beiden ist glaubhaft geschildert, das Ende der Affäre nach kurzem Sex, der von der entsetzten Mutter unterbrochen wird, kommt recht wenig melodramatisch.

Im Zentrum von allem steht Ruth. Sie behauptet von sich, sie habe nur eine Begabung: Anpassungsfähigkeit. Tatsächlich fügt sie sich ein, reagiert oft nur, lässt Chancen zu einer glücklichen Wendung ihrer Existenz mehrfach verstreichen und zeichnet sich überhaupt durch eine - nicht reizlose - Trägheit aus. Sie hält, obwohl sie in dem Moment mal wieder die Ehe gebrochen hat (mit einem perversen Schweizer) und obwohl auch ihr Mann sie betrügt, an der Überzeugung fest: "... das gibt es, Liebe, die verlässlich ist und diskret wie eine Schweizer Bank."

Leider sind solche Volten nicht witzig gemeint, vielmehr zeugen sie von einer Überstrukturiertheit und Überdeutlichkeit im Roman, dessen Beziehungs- und Materialfülle zu viel des Guten ist (es geht auch um den Sinn des Lebens, die Kreationisten, das Rätsel um Willys Vater, Nationalcharakter und die Angst).

Fast penetrant setzt Mingels Wetter- und Landschaftsbeschreibungen als Spiegel der Psyche ein, Zeit und Alter ziehen sich als Gesprächsthema, als Metapher beinahe ermüdend durch das Buch, eine fatale Geste kommt, genau wie bedeutungsvolle Träume, immer wieder vor, von weiteren Doppelungen und Bezügen zu schweigen. Das könnte kunstvoll wirken, wäre es nicht so vordergründig eingesetzt.

Ähnlich verhält es sich mit der Romanstruktur, die zwar komplex ist, aber eher kompliziert wirkt. Gerade fährt - im Präsens erzählt - das Trio Ruth, Simone, Willy im Auto durch England, da schaltet Mingels - im Imperfekt erzählt - Erinnerungen Ruths an die Kindheit, die Studienzeit oder die Ehe mit Sven ein, die teils wieder durch Geschichten und Erinnerungen unterbrochen werden. Da die Autorin auch noch ein Faible dafür hat, Informationen spät oder nur implizit zu vermitteln, vieles vage zu lassen, Sprecherangaben oft erst nach zwei, drei Sätzen nachzuliefern, das Altersgefüge der Personen erst nach knapp hundert Seiten zu klären, fällt es nicht immer leicht, den Überblick zu behalten.

In der Sprache setzt sich das Dilemma fort, denn den durchweg gelungenen Erzähl- und Beschreibungsduktus unterbrechen nicht nur seltsam kühne Bilder, sondern auch klischeehafte Wendungen, bildungsschwere Zitate und unmotivierte Termini.

Das Nabokov-Motto des Romans weist vielleicht auf Mingels künstlerisches Vorbild hin, doch in Nabokovs Werken herrscht ein souveräner und meist im Verborgenen wirkender Beziehungszauber, und es fehlen dort natürlich sachliche oder erzähltechnische Fehler.

Zum aufrechten Gang, den die bindungslose Ruth am Ende des Romans zu lernen beginnt, gehören Freiheit und Selbstbewusstsein. Es wäre schön, zeigte Mingels nächstes Buch mehr davon, denn es käme ihrer zu Recht gelobten Fähigkeit, verworrene Beziehungsgeflechte, seelische Krisen, aber auch unterschiedliche Milieus zu schildern, zugute.


Titelbild

Annette Mingels: Der aufrechte Gang.
DuMont Buchverlag, Köln 2006.
167 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3832179658

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