Collaborativ-Sex und soziale Ästhetik
Über ein Mitschreibeprojekt Claudia Klingers
Von Roberto Simanowski
"Beim Bäcker" (http://home.snafu.de/klinger/baecker) ist ein Veteran unter den Web- Mitschreibeprojekten. Der Vorwurf, dass es nicht auch ein Pionier ist, weil es keine Experimente wage, sondern die klassische lineare Fortschreibung beibehalte, ist etwas ungerecht. Das Experiment kollaborativer Autorenschaft ist Wagnis genug und reicht völlig aus, um statt eines roten Fadens eine "Aneinanderreihung letztlich belangloser Episoden" hervorzubringen. Das gemeinsame Schreiben an einer linear aufgebauten Geschichte hat Vorteile gegenüber der kollaborativen Treefiction, die es nicht erzwingt, sich auf das Vorgefundene einzulassen und von ihm aus die Geschichte weiterzuspinnen. Das Spannende der linearen Mitschreibeprojekte ist, wie die Autoren die zugeworfenen Bälle auffangen.
Carola Heine macht den Anfang beider von Claudia Klinger moderierten Geschichten: Sie entwirft am 18. Juli 1996 eine unverfängliche Szene beim Bäcker (Frau schenkt drei Kindern Lollies; die strahlenden Gesichter der Beschenkten wecken den Kinderwunsch der Spenderin), die in eine Quicky-Fantasie "zwischen Laugenbrezeln und Aufbackbrötchen" mündet (denn zur Kinderzeugung wäre gerade jener "muskulöse und attraktiv verschwitzte junge Mann in dem blauen Overall" im Ladeninneren der Geeignete).
Herbert Hertramph bringt im zweiten Beitrag den Bauarbeiter ins Spiel, der von der Straße in den Bäckerladen schaut und seine sexuelle Fantasie auf die Frau projiziert. Jedoch führt Hertramph nicht nur eine neue Figur ein, aus deren Perspektive er das Geschehen weiterschreiben kann, er besetzt auch, was bisher offengeblieben war: die Protagonistin der ersten Szene. Sie wird vom Bauarbeiter als klein und altmodisch beschrieben (Carole hatte ihr Seidenbluse und Rock mitgegeben, Herberts Bauarbeiter wünscht sich eher Jeans). Solche Bemerkungen lenken Leser- Sympathien, kein Wunder, dass Carola zurückschlägt.
Sei es, dass Carola die Umlenkung der Aufmerksamkeit vom attraktiv verschwitzten Blaumann auf den Bauarbeiter missfiel, sei es, dass ihr die gleiche Fantasie bei einem Mann weniger behagte, sei es, dass sie die ungünstige Beschreibung ihrer Figur persönlich nahm, jedenfalls zeigt sie nun, was ihre Protagonistin von solch "grinsenden Halbaffen", solch "direkten Nachfahren des Neandertalers mit dem primitiv-abschätzenden Blick", solch "Steinzeit-Machos" hält, die alle ihnen "karrieremässig überlegenen Männer als Idioten bezeichnen und einen kleingeistigen Schrebergarten an Vorurteilen" hegen. Die Schmähung geht bis in den Schweiß hinein: während der Blaumann noch "attraktiv verschwitzt" war, könne diese bauarbeitende Inkarnation des Frauenschrecks, so erfahren wir, sich wegen seines "ALTEN Schweisses" als Verhütungsmittel patentieren lassen, so sehr vergehe es einem da.
Antje Fischer kommt später zur Ausgangsfantasie zurück und setzt zugleich neue Akzente: Ihre Figur stellt der Fantasie ihrer Geschlechtsgenossin (deren verträumten Blick sie natürlich sofort durchschaut) einen tatsächlich vollzogenen Sex zwei Jahre zuvor in einer Metzgerei entgegen. Es handelt sich um den Kommentar einer Frau auf die Initialfantasie einer anderen, die, statt aktiv zu werden, mit einem Lollie als Ersatz frustriert den Laden verlässt, "einen Bauarbeiter aus dem Weg scheuchte und zu den Männlein im Büro zurückging" ("Ich hätte sie schütteln mögen: 'Keinen Lollie, bestell dir einen Kaffee, und dann ran an den Mann!' Aber nein, Frau nimmt nicht, was sie will. Frau wuschelt in den Haaren und hofft, dass einer gesprungen kommt...")
Die Geschichte nimmt in ihren weiteren 32 Beiträgen freilich noch viele Wendungen. Ein Hund gibt das Geschehen aus seiner Perspektive wieder und lässt vermuten, dass sein Frauchen tatsächlich einen Quicky hat, und zwar mit dem Bäckerssohn; ein männlicher Autor gibt dem Bauarbeiter eine Zigarette, sein Pharmaberater lobt das gepflegte Deutsch, "was für Kölner eigentlich recht selten ist" und wohl an Antje Fischers Adresse geht, die den Text zuvor durch die lokale Festlegung ("Kölns teuerster Bäckerei") eigenmächtig allen anderen Orten Deutschlands entrissen hatte.
Diese Eigenmächtigkeiten scheint die Geschichte nicht zu vertragen. Nun folgen Beiträge, die kaum noch etwas zur Sache beitragen. Schließlich erhält der Text ein neues Thema: sich selbst.
Ingeborg Jaiser spricht es aus im 22. Beitrag: "Als ich den Hörer auflegte, fühlte ich mich unendlich müde. Das Seidenzeug war restlos zerknautscht, mein Parfum verflogen, die Lust auf Alex zu einem bloßen Zittern zusammengeschrumpft. In den Flurspiegel blickte ich absichtlich nicht. Für einen letzten Moment rang ich mit mir. Sollte dies nicht ein Gemeinschaftsprojekt sein? Sollte ich nicht an den toughen Notarzt, an den rassigen farbigen Lover, an die kleine Yolanda denken? War ich nicht dazu verpflichtet, sie alle in meine Fortsetzung einzubinden? / Unfug, sagte ich mir. Das war meine Runde. Sollten die anderen schauen, wo sie blieben."
Dieser Bruch der Fiktion im Textverlauf entspricht dem Zustand des Projekts genau. Die Mahnerin ändert daran nichts, sie macht vielmehr ihre Drohung wahr und fängt eine ganz neue Geschichte an. Und natürlich beteiligt sich der nächste Autor daran nicht. Der Umzug auf die Metaebene macht das Projekt selbst zum Thema, als Bestandteil digitaler Kommunikation:
"Welch ein Unterschied zu damals: in nahezu wöchentlichen Abständen hatte irgend jemand einen neuen Farbtupfer hinzugefügt; er dachte mit versonnenem Lächeln daran zurück, dass ihm diese Geschichten Mut gemacht hatten: nämlich (zum ersten Mal) sich zu 'veröffentlichen'; und eigene Beiträge beizusteuern, im wahrsten Sinne des Wortes aus sich heraus zu gehen; also jene Energie fließen zu lassen, die Kreativität wie Erotik vielleicht am meisten ausmacht.../ Welch ein Unterschied zu damals: immer wieder waren neue, interessante Menschen aufgetaucht, die eine oder andere Geschichte hatte ihn sogar auf den Autor bzw. die Autorin neugierig gemacht; er hatte versucht, sich vorzustellen, wie er oder sie wohl aussehen würde, welches Leben sie führten, welche Träume sie wohl hatten; war bisweilen sogar versucht gewesen, mit ihnen Kontakt aufzunehmen; also jene Energie fließen zu lassen, mit der man sich näher kommt..."
Diese Reflexion bestätigt die Beobachtung, dass die eigentliche Story der Mitschreibprojekte ungetippt zwischen der Teilnehmern abläuft. "Beim Bäcker" legt die Gruppen-Dynamik der Autoren offen zutage. Wenn Hans Peter Müller das Gemeinschaftsprojekt als solches mit Erotik vergleicht, weil Energien fließen und Menschen sich näher kommen, ist andererseits auch metaphorisch von "Verstümmelung" zu reden: Das Projekt wimmelt nur so von blutigen Textstümpfen, die keiner versorgen möchte. Alle hinterlassen sie ihre Beiträge mit Ereignissen, die, so meint man, nach der 'Werbepause' unbedingt aufgelöst werden müssen. Keiner kümmert sich richtig darum. Diese hartnäckige Ignoranz macht das Kollektivprojekt schließlich zu einem Tummelplatz von Egoisten.
Aus diesem Grund vegetiert die Geschichte bald nur noch vor sich hin, gelegentlich noch jemanden zu einem Beitrag bewegend (der letzte Beitrag ist auf Dezember 1998 datiert). Was die Geschichte braucht, ist ein Autor, der ihr Scheitern erzählt - anders gesagt: ihr Ende. Denn wenn keiner an der Zusammenführung und Schließung der Spannungsbögen arbeiten will, bleibt letztlich nichts als ein gekonnter Abbruch.
Was die kollaborativen Möglichkeiten und Grenzen des Genres betrifft, so lassen sich am besprochenen Beispiel folgende Thesen über Mitschreibprojekte dieser Art formulieren:
* Schreiben ist Sinngebung, Sinngebung ist Okkupation; was noch nicht semantisiert wurde, steht anderen zur Verfügung. Dies ist Ziel der Sache, zugleich aber auch Stein des Anstoßes, denn es geht dabei nicht nur um Besetzung von Brachland, sondern auch um Enteignung des bereits kultivierten Terrains.
* Die Möglichkeiten der Aneignung des Geschriebenen sind begrenzt. Eine Figur, eine Handlung kann nicht unendlich oft umgeschrieben werden. Das vorliegende Genre tendiert daher dazu, dass neue Autoren neue Figuren einbringen. Diese ermöglichen zum einen, das bisherige Geschehen aus einer neuen Perspektive nochmals neu zu deuten, zum anderen eröffnen sie neue Felder der Darstellung.
* Eine besondere Art der Aneignung ist die Besetzung der Zukunft, wie sie durch angekündigte, aber noch nicht realisierte Handlungen erfolgt. Der Autor versucht dadurch, seine Anwesenheit über die Zeit seines eigenen Erzählens hinaus in den Text seiner Nachfolger zu verlängern; wie zu sehen war, meist ohne Erfolg.
* Wenn die bisherigen Informationen nicht umgedeutet oder ignoriert werden können, versucht man, sie in den eigenen Text zu integrieren, der sich damit gleichsam als Fortsetzung legitimiert. Diese "aufgreifende Aneignung" des Vorgefundenen erfolgt mitunter als Verbeugung vor dem Schöpfer des Zitierten. Je weiter die Geschichte voranschreitet, um so mehr wird die Aufnahme vorangegangener Informationen zu einer Frage der Verwaltung.
* Die Bereitschaft der Autoren, sich an dieser Verwaltung zu beteiligen, ist unterschiedlich stark ausgeprägt. Das Schreiben nicht in, sondern neben der Geschichte wird zu einem spürbaren Problem und führt rasch eine autoreflexive Ebene ein. Die Geschichte der Geschichte wird Gegenstand und Zentrum der Beiträge. Die Demokratie des Schreibverfahrens verhindert das Gelingen des Projekts.
* Das Ende des Projekts öffentlich auszurufen ist die Aufgabe des letzten Autors. Da der Text keinem gehört, kann niemand wirklich diese Aufgabe übernehmen. So vergetiert der Text vor sich hin, ohne, wie Wein oder Käse, mit zunehmendem Alter besser zu werden.
Die Qualität des vorliegenden Schreibprojekts sei dahingestellt. Es liest sich besser, als man vielleicht erwart haben mag. Allerdings muss man in Rechnung stellen, was Mitschreibprojekte überhaupt leisten können. Der Tip eines Kommentators dieses Textes, für erotische Literatur lieber andere Websites aufzusuchen, verkennt den eigentlichen Sinn dieses Projekts. Die Erotik ist nur der Speck, Leser zu fangen, die eigentliche Handlung spielt sich zwischen den Zeilen ab. Oder, um Hans Peter Müllers Sicht auf die Energieströme zwischen den Mitschreibenden aufzugreifen: die Erotik findet zwischen den beteiligten Autorinnen und Autoren statt.
Mitschreibprojekte dürften nicht in erster Linie aus ästhetischen Gründen interessant sein, sondern aufgrund der Geschichte, die sie dem Leser über ihre Autoren erzählen. Der Reiz dieser Texte, so wäre als 7. These zu formulieren, liegt weniger in ihrer literarischen Qualität als in der abzulesenden Gruppendynamik. Spannend ist, zu beobachten, wie auf den Text des Vorgängers eingegangen bzw. nicht eingegangen wird, wie Machtkämpfe in der Gestaltung einer Figur entbrennen, wie die meisten Beiträger ihr eigenes Süppchen kochen, wie eine gute Seele durch einen moralischen Appell den roten Faden zu retten versucht. Kollektivgeschichten sind v. a. spannend durch ihre 'soziale Ästhetik': Unter dem Text liegt ein Text, der von den Autoren, von der Dynamik der Kommunikation im Netz handelt, die Autoren der 'offiziellen' Geschichte sind die Figuren einer geheimen Geschichte und schreiben im Schreiben an jener zugleich an dieser über sich selbst.