Ungefähr so geschmeidig wie Stonehenge

In Marbach am Neckar wird bis zum 27. August die bisher umfassendste Arno-Schmidt-Ausstellung gezeigt

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Aufgeklärte Geister pilgern nicht. Und gerade weil die Irrationalität der Religionen wieder Oberwasser bekommt und der Horrorgedanke nicht einmal mehr unwahrscheinlich klingt, dass Schriftsteller auch hierzulande bald wieder wegen "Gotteslästerung" vor den Kadi gezerrt werden könnten: Irgendwohin zu fahren, um dubiose Gegenstände wie Reliquien zu betrachten, das sollten sich anständige Menschen strikt verbieten.

Mit einer Ausnahme. Wenn das Marbacher Literaturarchiv, jene würdige Aufbewahrungsstätte schriftstellerischer Nach- und Vorlässe, im Schiller-Nationalmuseum eine Arno-Schmidt-Ausstellung mit mehr als 500, in der seltenen Kombination wahrscheinlich in Zukunft nie wieder versammelter Exponate eröffnet, dann ist eine andächtige Fahrt in das kleine schwäbische Städtchen am Neckar ausnahmsweise erlaubt.

Zwei Jahre lang haben die Kuratoren Susanne Fischer, Friedrich Forssmann, Petra Lutz und Bernd Rauschenbach unter der Mitarbeit von Jörg W. Gronius und Jan Philipp Reemtsma an dieser einzigartigen Schmidt-Schau gearbeitet. Forssmann, der seit Jahren an dem Neusatz von Schmidts Monumentaltyposkript "Zettel's Traum" (1970) werkelt, gestaltete die abwechslungsreich dekorierten Räume eigens und exklusiv für das Marbacher Museumsgebäude. Das bedeutet, dass man diese am 30. März eröffnete Exposition, die man noch bis zum 27. August in Marbach besuchen kann, so nicht wieder woanders wird zeigen können - zumindest nicht, ohne empfindliche Umbauten vorzunehmen und damit irgendwelche konzeptionellen Abstriche zu machen. Zumal es fraglich ist, ob man z. B. die originalen 8 Kästen mit den ca. 120.000 Notizkärtchen, die Schmidt für die Niederschrift von "Zettel's Traum" beschriftete und ordnete, überhaupt noch einmal irgendwo anders ausstellen wird - hier jedenfalls sind sie erstmals öffentlich zu sehen.

So entsteigt denn der junge Schmidt-Forscher gespannt der Stuttgarter S-Bahn und schreitet vom Marbacher Bahnhof aus munter fürbass: Eine Straße führt hinauf auf die Schillerhöhe samt kleinem Park, und da geht es ja auch schon auf den weißen klassizistischen Bau des Museums zu. Eine kleine Treppe führt hinauf zur Ausstellung, und man steht - vor einer weißen Büste Friedrich Schillers!

Welch schöne Ironie gleich zu Beginn: "Scheiß=Schiller!" war ja Schmidts gleichermaßen knapper wie ätzender Kommentar zu diesem illustren Marbacher Vorfahren, nachzulesen in "Zettel's Traum". Und es dürfte dem wortmächtigen, jedoch bis heute immer noch kaum gelesenen Wahlniedersachsen, der 1979 während der Arbeit in seinem Bargfelder Refugium an seiner Schreibmaschine einen Gehirnschlag erlitt und wenig später im Celler Krankenhaus verschied, im Himmel droben nicht übel gefallen, dass ihm nun ausgerechnet hier, in Schillers Geburtsstadt und im nächsten Jahrtausend, doch noch eine solche publikumswirksame Ehrung zuteil wird - gleichsam unter den wachsamen Augen der kanonstiftenden Klassik.

Im Himmel? Falls es einen Himmel gibt. Und das wollen wir ja lieber gar nicht annehmen. Zumal Schmidt selbst am 18. April 1955 eine Anzeige "wegen Gotteslästerung und wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften" ins Haus flatterte. Eines der Exponate der Ausstellung ist der damalige Anklage-Brief des Kölner Rechtsanwalts Paul Weimann und erinnert uns daran, wie inquisitorisch es um die katholische deutsche Welt kurz nach Kriegsende bestellt war - eine Gesellschaft, in die wir nun wirklich nicht wieder zurück katapultiert werden möchten.

Am Vormittag nach der Ausstellungseröffnung begegnet man im Museum ersten Besuchern, die man einmal fragen kann, welche konkreten Erwartungen sie hierher führten. "Ich bin eigentlich wegen Friedrich Schiller gekommen!", gesteht eine ältere Dame, die mit sichtlicher Ratlosigkeit auf einige Fotos aus Schmidts Cordinger Zeit blickt. Dort, unweit der niedersächsischen Kleinstadt Walsrode und inmitten der Lüneburger Heide, lebte der Schriftsteller nach seiner britischen Kriegsgefangenschaft von 1945-50 mit seiner Frau Alice. Er jobbte als Dolmetscher in einer englischen Hilfspolizeischule und schrieb sein Debüt auf britische Telegrammformulare: "Leviathan" (1949). Wir stehen vor der ausgestellten Erstausgabe, doch die ahnungslose Besucherin hat von dem Buch offensichtlich noch nie etwas gehört. "Ist denn jetzt etwa das ganze Haus hier nur voll mit diesem Schmidt?", fragt sie entsetzt. "An modernen Autoren kennen ich Gerhart Hauptmann, auch Thomas Mann", zählt sie auf - "aber Arno Schmidt? Nein!", erklärt sie kopfschüttelnd und geht.

Im Foyer des Museums stehen zwei erschöpfte Mitarbeiter der Arno Schmidt Stiftung, Bargfeld. Besonders die Geschäftsführerin Susanne Fischer sieht müde aus und hält sich tapfer an einer Plastikflasche mit Apfelsaftschorle fest. "Gestern Nacht nach der Eröffnungszeremonie ist es verdammt spät geworden", knurrt sie und nimmt erst einmal einen tiefen Schluck aus der Pulle.

Ihr Kollege Oliver Jahn, der die Stiftung im Suhrkamp Verlag vertritt, wo das Werk des selbsternannten "Wortmetzes" Schmidt seit einigen Jahren erscheint, berichtet mit gefassten Worten von der Veranstaltung. Der Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach, Professor Dr. Ullrich Raulff, habe wiederholt der "Arno-Schmidt-Gesellschaft aus Bargteheide" gedankt, erzählt Jahn. Er kann sich ein Grinsen nicht verkneifen.

In der Ausstellung selbst, die sich über 10 Räume mit unterschiedlichen biografischen, literarischen und teils auch installationsartig präsentierten Themenschwerpunkten verteilt, bewegen sich an diesem ruhigen Vormittag vor allem ältere Ehepaare um die 65. Auffällig ist, dass die Männer vor den Exponaten meist dozierend auf ihre resignierten Begleiterinnen einreden und damit dem machomäßigen Männertypus unerträglicher Besserwisser, der Schmidts Texte bevölkert, alle Ehre machen.

Das ändert jedoch nichts daran, dass es hier so einiges Überraschendes zu sehen gibt. Mit Schmidts ambivalentem Charakter, seiner skurrilen und wohl auch tief neurotischen Persönlichkeit ist man noch nie so geballt konfrontiert worden wie hier. Als Andenken liegt zu jedem Themenschwerpunkt der Ausstellung ein liebevoll gedrucktes Begleitheftchen aus - auf dass man ausgewählte Schmidt-Texte mit nach Hause trage, als handele es sich um Gesangbuchlieder.

Außerdem gibt es es auch eher künstlerisch-abstrakte Präsentationen: etwa in dem ersten, stockfinsteren Raum, an dessen schwarzen Wänden hüpfende Schmidt-Sätze weiß aufleuchten (Animation: Stefan Matlik). Oder auch in Ausstellungsräumen zu kardinalen Schmidt-Themen wie dem der Landschaft oder der Politik. Der erstere ist ebenfalls verdunkelt und mit stählernen, von innen heraus erleuchteten Kästen vollgehängt, die Schmidts selbstgeknipste Heide-Dias in Augenhöhe zeigen; der andere blau illuminiert und mit passenden Zitaten aus dem Off beschallt, während man dokumentarische Filmmontagen aus der deutschen Kriegs- und Nachkriegszeit betrachten darf.

Diese Arrangements sind von Reemtsma und seinen Mitstreitern zwar mit viel Liebe und Stil gestaltet worden. Doch laden solche Teile der Exposition angesichts der zu bewältigenden Fülle des Materials weniger zum Verweilen ein, als die helleren, größeren Räume. Hier werden etwa Schmidts alte Schreibmaschinen, seine Typoskripte und sonstige, teils geradezu numinos präsentierte Objekte ausgestellt.

Noch vor dem Raum zu Schmidts Biografie kann man auf dem Museumsflur stumme Schwarzweißfilmszenen aus seinem Bargfelder Leben der sechziger Jahre betrachten. Da sitzt er also an seinem Schreibtisch, dieser schalkhafte Pedant, und setzt mit einer winzigen Pinzette bedachtsam einzelne Zettel in große Karteikästen ein. Ein Buchhalter, der aus seinem Angestelltendasein in den schlesischen Greiff-Werken der 30er-Jahre nie wirklich entkommen zu sein scheint: Schmidt war zeitlebens ein Arbeitspensumsfanatiker und scheute sich nicht, in seiner berüchtigten Goethepreisrede (1973) zu betonen, dass seine Woche über hundert Stunden habe und er deshalb das 40-Stundenwochen-Gefasel der streikenden Arbeiter einfach nicht mehr hören könne.

Doch etwas nachdenklich wird da der Besucher der Marbacher Ausstellung, wenn er nur wenige Schritte weiter auf Schmidts ausgestelltes Mitgliedsbuch der "Deutschen Arbeitsfront" stößt. Aufgeschlagen pappt es hinter einer Glasvitrine an der Wand, und zu lesen ist darin das prangende Motto Adolf Hitlers: "Es mag einer tätig / sein, wo er soll, / er darf nie vergessen / daß die Nation nur lebt / durch die Arbeit aller".

Im Raum riecht es nach frischer Farbe: Forssmann hat die biografisch orientierten Ausstellungsräume mit grau gestrichenen Holztafeln verkleiden lassen. Hier und auch in den folgenden Zimmerfluchten verstellen ab und an kulissenartige Stelen die Wege, auf denen historische Hamburger oder Bargfelder Schauplätze aus Schmidts Leben fotofragmentarisch angedeutet sind. Privatmythologische Seltsamkeiten wie die berüchtigten drei aufgeklebten Sarotti-Mohren, die das Ehepaar Schmidt bis tief in die 50er-Jahre hinein überall hin mitnahm und die der Schriftsteller in verschiedenen literarischen Texten verewigte, findet man in diesen Räumen ebenso reliquienhaft aufgebahrt wie auch andere wirklich nicht anders als ulkig, um nicht zu sagen bizarr zu nennende Dokumente.

Darunter etwa Schmidts Bargfelder Telefonanschlussantrag aus dem Jahre 1962 - zweifelsohne eines der uneingeschränkten Highlights der Ausstellung. In dem schreibmaschinenschriftlich ausgefüllten Formular bestellt Schmidt eines der seinerzeit handelsüblichen elfenbeinfarbenen Telefone, fügt jedoch hinzu, falls vorhanden, wolle er lieber ein braunes. Unter der Rubrik "Besondere Wünsche" fügt der erwartungsfrohe Kunde hinzu: "Ich bitte anstelle eines schrillen Klingelzeichens um einen diskreten Summton, da die Ausübung meines Schriftstellerberufes von möglichst wenig Geräuschen abhängt." Lakonisch vermerken die Kuratoren unter dem Dokument, Schmidt habe daraufhin einen schwarzen Apparat mit schriller Glocke geliefert bekommen. Offenbar haben also Erlebnisse, die man auch heute noch mit der Telekom haben kann, eine längere Tradition, als man ahnte - ja bestimmten die Geschichte der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur in nicht zu unterschätzendem Maße!

Steigt man in die höher gelegenen Teile der Austellung hinauf, so wird man vor allem mit gediegenem Design konfrontiert. Der Saal, der sich mittels ausgesuchter Leseproben dem Thema der Sexualität bei Schmidt widmet, verströmt sogar einen Hauch von Verruchtheit. Boden und Wände dieses "pornographischen Lachkabinetts" sind allen Ernstes mit rotplüschigem Teppichboden ausgeschlagen.

Steckt man seinen Kopf in verschwiegene Wandnischen, so kann man allerlei 'Stellen' aus Schmidts Gesamtwerk hören, die intime Gedanken, Flüstereien und Assoziationen beim Geschlechtsverkehr zum Thema haben - eine der literarischen Obsessionen, die im obszönem Spätwerk beinahe überhandnehmen. Über eine diskrete Wendeltreppe gelangt man von hier aus nochmals weiter hinauf in einen geradezu esoterisch anmutenden, runden Meditationsraum mit gelblichen, mondförmigen Wandlichtern, in dem genau 12 Sitznischen die Möglichkeit bieten, monomanische Ich-Credos Schmidt'scher Heldenfiguren in die Ohren gesäuselt zu bekommen: "15.000 Volt bin ich", lautet hier das sinnige Motto (Sprecher: Ulrich Matthes, ausgerechnet).

Was auch immer man von der aufwändigen Ausstattung der Ausstellung im Einzelnen geschmacklich halten mag: Sie ist äußerst abwechslungs- und kontrastreich gestaltet und an keiner Stelle langweilig. Da lässt man sich genießerisch in tannengrüne Polstersessel sinken, um mit geschlossenen Augen alten Hörfunkessay-Aufnahmen zu lauschen. Und am Ende bekommt der Besucher das wahnwitzige Mienenspiel Schmidts einfach nicht mehr aus dem Kopf, das man hier in einer 13-minütigen Interviewsendung aus dem Jahre 1963 beobachten kann.

Damals befragte Hans Schwab-Felisch den Autor über seine Einschätzung Karl Mays. Schmidt hebt die rechte Augenbraue in seiner unnachahmlich schulmeisternden Art und rollt die Rs, dass es einem Angst und Bange wird. Und doch scheint der agile Mann, der hier mit geradezu antideutschen Seitenhieben über Mays angebliche Neurosen doziert, seine eigene, fast schon psychotisch wirkende Pose gleich mit zu durchleuchten und spitzbübisch zu reflektieren.

Ganz klar: Schiller hatte sein Jubeljahr. Jetzt kommt, auch ganz ohne Jubiläum und unaufhaltsam, ja "ungefähr so geschmeidig wie Stonehenge", wie eine seiner Romanfiguren sich einmal bezeichnet - der wohl immer noch verstörendste und schillerndste Autor der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur - Arno Schmidt.

Man begebe sich nach Marbach!