Popliteratur war gestern - es lebe Rock' n' Roll!

Joey Goebels Rockroman "Freaks"

Von Julia SchusterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Schuster

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Die grobgestrickte Handlung wurde an den Haaren herbeigezogen, die Protagonisten wurden an den passenden Stellen untergebracht, die Themen gründlich ausgeschlachtet, sämtliche Perspektiven sorgfältigst ausgelotet, vordergründige Symbolik bewusst eingesetzt, abgedroschene Ironie verwendet und Emotionen sowie Humor angemessen übertrieben [...]."

So beschreibt Joey Goebel selbst seinen zweiten Roman. Damit hat der 1980 in Kentucky geborene Leadsänger der Punkrockband The Mullets bereits das Wesentliche über "Freaks" gesagt. Doch die fünf plakativ als Außenseiter gezeichneten Charaktere machen sich großartig in Goebels Story:

Da wäre erst einmal der durchgeknallte Luster, ein permanent vor sich hin brabbelnder, afroamerikanischer Misantroph, der die "Humanoiden", also alle anderen Menschen, verabscheut und für den jeder Tag ein "Alptraumtag" ist. Dann ist da Aurora, die Satanistin im Rollstuhl, die zwar unglaublich sexy, dabei aber vollkommen keusch ist. Opal ist die Dritte im Bunde, eine 80-jährige Altersheiminsassin, die nur Vögeln und Rock' n' Roll im Kopf hat. Opals Babysitter-Kind ist Ember, äußerlich ein kleiner blond gelockter Engel, in Wirklichkeit aber ein Satansbraten von acht Jahren, der die "South Park"-Zeichentrick-Schüler locker an die Wand fluchen könnte. Und dann ist da noch Ray, ein Iraker, der nach Kentucky gekommen ist, um den amerikanischen Soldaten zu finden, den er im Golf-Krieg verwundet hatte. Alle halten ihn für schwul, aber eigentlich bemüht er sich nur, so auszusehen wie ein Amerikaner.

Klar, dass die fünf für die spießigen Kleinstadtbürger eine Lachnummer sind. Um gegen die "Föderation der Geistlosen" bestehen zu können, gibt es nur ein Mittel: Musik. Ihre Power-Pop-New-Wave-Heavy-Metal-Punkrock-Band "The Freaks" ist für alle nicht nur "die Familie, die keiner von uns je hatte", sondern auch der Versuch, "die Verschwörung der Mittelmäßigkeit" zu beenden.

Goebel schrieb nach der Veröffentlichung seines Debüt-Romans "Vincent" (2005) sein erstes literarisches Werk - ein Drehbuch - zum Roman "Freaks" um. Herausgekommen ist dabei eine Collage aus kleinen Ich-Erzählungen, in denen der Autor die fünf Protagonisten abwechselnd zu Wort kommen lässt. Die Außenperspektive auf das skurrile Grüppchen wird von verschiedenen Randfiguren, wie z. B. "Therapeut", "Polizist" und "Exfreund" vermittelt. Normalität und Wahnsinn sind so eine Frage des Blickwinkels.

Dass die Charaktere als Karikaturen angelegt sind, entspricht der surrealen Atmosphäre des Romans. Hier wird gespielt mit Schein und Sein - jede der überzeichneten Figuren schlägt letztendlich eine andere Richtung ein, als ihre Rolle vorzugeben meint.

Joey Goebel wird bereits als die neue literarische Entdeckung vom Schlage eines John Irving oder eines T. C. Boyle gehandelt. Der schmeichelhafte Vergleich mit den beiden großen amerikanischen Romanciers ist begründet in der Thematisierung des Andersseins in Amerika, des kritischen Blicks auf die amerikanische Gesellschaft. Doch anders als Boyle und Irving erhebt Goebel keinen Anspruch auf Authentizität. Er will keine Bandgeschichte erzählen oder das "wahre Leben" verkörpernde, koksende Popliteratur-Buben vorführen. Nein, mit "Freaks" plädiert er für einen freien Geist und einen anderen Blick auf die Wirklichkeit. Goebels "Freaks" haben dazu die richtige Menge Unzufriedenheit und individualistische Power. Man muss nur bereit sein. Bereit, um die Welt in Grund und Boden zu rocken.


Titelbild

Joey Goebel: Freaks. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog.
Diogenes Verlag, Zürich 2006.
192 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3257861419

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