Abstecher ins Schlaraffenland

Helen Meier erzählt die Geschichte einer verliebten Alten

Von Mechthilde VahsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mechthilde Vahsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nora Korn traut ihrem Glück nicht. Kaum hat sie den Tod ihres langjährigen Geliebten Davide und den Tod der Mutter betrauert, sich selbst in die Pensionierung geschickt und sich alt und am Ende gefühlt, läuft ihr Celestina Claassen über den Weg. Eine junge Frau, die sich vorbehaltlos in die Liebesgeschichte mit der Älteren begibt. Nora ist überglücklich, erlebt erfüllenden Sex, erfüllende Gespräche, kulturelle Reisen, Gemeinsamkeit, an die sie nicht mehr geglaubt hat. "Wieder werde ich mich selbst", sagt Nora und glaubt an eine endlose Liebe.

Doch ein weiteres Mal in ihrem Leben begeht sie einen schweren Fehler: Sie stürzt sich in diese Liebe mit einer selbstaufgebenden Hingabe, konzentriert sich auf die Andere und deren wochenendliche Anwesenheit. Eine solche abhängige Liebe tut nicht gut, weder der Einen noch der Anderen. Und schließlich kommt eine Dritte ins Spiel, in die Celestina sich verliebt und der sie folgt. Nora bleibt zurück und begreift erst spät, dass Celestina ihr Leben lebt, das, was ihr entspricht. Was sie, Nora, nicht getan hat.

Nora geht auf die Suche nach "Ansichten gewissen Alters"; sie will das Leben als "Nichtmehrjunge" erforschen und macht daraus ein Projekt. Sie befragt alte Menschen, in der Erzählung sind es ein Künstler, eine Schriftstellerin, ein Politiker und einige andere, nach deren Auffassungen über das Altsein. Im Grunde will sie damit ihr eigenes Älterwerden verstehen, ihre Angst vor dem Tod überwinden oder zumindest verringern, was ihr nur begrenzt gelingt. Celestina ist nach einiger Zeit genervt von diesem Thema. Sie jedoch ist der Auslöser für diese Suche, weil ihre Jugendlichkeit, ihre Frische und Lebendigkeit, ihr noch ungezeichneter Körper ständig präsent sind und Nora um so mehr auf das eigene Altwerden, die eigene nahe Vergänglichkeit verweisen.

Erst durch die Beziehung zur Jüngeren wird Nora zur Älteren, denn Davide, mit dem sie eine langjährige Partnerschaft verband, war älter als Nora, das Thema des eigenen Altwerdens und -seins spielte in dieser Verbindung keine Rolle.

Die Erzählung ist etwas ermüdend im Stil, weil zuviele Dialoge ohne jedwede Handlung den Text bestimmen. Etwas einförmig wirkt auch Noras Lamentieren über das Altwerden und Altsein, vieles davon ist bereits oft gesagt und wiederholt worden. Eine Lösung für sich findet sie nicht, nur die Erkenntnis, dass Celestina gelingt, was sie nicht schafft: dem eigenen Lebensdrang zu folgen. Nora hingegen hatte sich immer über andere gesehen und definiert, was ihr jetzt zu schaffen macht, auch wenn sie ihr Leben äußerlich gefestigt hat.

Interessanter als die Aspekte des Altersdiskurses, wie sie aus der seit Jahren bestehenden Mediendiskussion bekannt sind, sind die Erinnerungen Noras, die über sie hereinbrechen. Hier entfaltet sich Noras Leben, an Partner und beruflichen Stationen entlangerzählt. Ihre Biografie zeigt eine unsichere Frau, die zuletzt Halt findet bei Davide, mit dem sie nicht zusammenwohnt, der sie schließlich nicht mit nach Venedig nimmt, in seine Heimatstadt, in der er seinen Lebensabend verbringen will. Kaum kehrt er zu ihr zurück und das Leben scheint wieder geordnet, stirbt er. Nora ist allein.

Der Altersdiskurs, die Beziehung zwischen Nora und Celestina und Noras Erinnerungen wachsen zu einer Erzählung, die sprachlich von Intensität und Genauigkeit der Beobachtung geprägt ist. Der Anfang beschreibt ausführlich die Beziehung zwischen den beiden Frauen, die stürmische Lust des Neuen, dann folgt ein ruhigerer Teil, der sich mit dem Altersthema beschäftigt und Noras Erinnerungen aufblättert. Der Schluss bringt das Auseinanderbrechen der Beziehung, Nora beendet auch radikal ihr Altersprojekt, die Erinnerungen sind verarbeitet.

Obwohl alle drei Erzählstränge miteinander verbunden sind, ergibt sich der Eindruck, als formuliere Nora im Mittelteil einen Essay zum Thema Altern. Natürlich hat alles miteinander zu tun. Ohne die junge Geliebte hätte das Thema nicht eine solche Brisanz für Nora, ohne diese neue Liebe nach den existentiellen Verlusten bestünde das Bedürfnis nach dem Zusammenführen ihrer bisherigen Lebensstationen nicht. Die Erzählung kippt nicht nur an dieser Stelle zu sehr ins Dialogische: Wer spricht, ist nicht deutlich nachvollziehbar, die Handlung tritt hinter den Dialog, Nora mit Celestina oder mit den Interviewten, zurück, was der Erzählung einiges an Spannung nimmt. Erst zum Ende hin wird der Faden der Liebesgeschichte, das Motiv der verliebten Alten, wieder aufgenommen.

Noras VorgängerInnen in der Literatur, sei es Goethes verliebtes Alter von fünfzig Jahren, der alternde Casanova bei Schnitzler, die alte Frau bei Hedwig Dohm, die auf ihr Recht pocht, als alte Frau einen Jüngeren lieben zu dürfen - sie alle lieben und reflektieren gleichzeitig die Altersproblematik innerhalb einer Liebesverbindung. Die Autorinnen und Autoren diskutieren zeitgenössische Altersstereotypien, greifen Vorurteile auf und führen die Alten in ihre Rolle als Alte zurück. Der Ausbruch misslingt, sei es aus der Erkenntnis heraus, das eigene Alter annehmen zu müssen oder weil die Liebe unerwidert bleibt.

Auch bei Helen Meier gibt es Widerspruch gegen den Ausbruch: Der alternde Körper Noras verweigert ihr den Dienst. Ihre Lust auf Sexualität versiegt, ein Hormonmangel, heißt es im Buch lapidar. Mit diesem Lustbruch bricht gleichzeitig ihr Alter radikal in alles ein, fegt alles hinweg, was Nora an Sicherheiten angesammelt hat, all die Details aus ihrer Zeit mit Celestina, nichts wird davon übrig bleiben. Sie selbst ist schließlich diejenige, die sich diesem Duktus unterwirft, sich selbst zensiert und daran scheitert, dass sie mit Celestina nicht zusammen alt werden kann, dass deren Instabilität ("Celestina kam und ging wie ein Wind") ihre eigene Unsicherheit verstärkt. Aus ihrem Schlafwandel ist sie damit erwacht. Und kann nicht wieder dahinter zurück.


Titelbild

Helen Meier: Schlafwandel. Erzählung.
Ammann Verlag, Zürich 2006.
218 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 325060089X

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