"Das Blaue Buch" oder Der Dichter als Zeitzeuge

Zu Erich Kästners Kriegstagebuch und seinen unveröffentlichten Roman-Notizen

Von Horst SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Horst Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 wählte der damals ausgesprochen viel gelesene (und entsprechend gut verdienende) Journalist, Lyriker, Romancier und Kinderbuchautor Erich Kästner (1899-1974), obwohl seine Bücher alsbald von den Nazis verbrannt wurden und er nicht mehr unter eigenem Namen in Deutschland publizieren durfte, nicht wie viele seiner wie er demokratisch gesinnten Schriftsteller-Kollegen aus der Weimarer Republik das Leben im Exil. Kästner blieb trotz aller Anlässe zur Emigration in Deutschland und erlebte den Aufstieg und den Untergang des "Dritten Reiches" hautnah und als Zeitzeuge mit. Doch auch wenn Erich Kästner die Zeit von 1933 bis 1945 nicht als Emigrant außerhalb des nationalsozialistischen Deutschlands erlebte, so wird er dennoch von manchen Literaturhistorikern der deutschen Exilliteratur zugerechnet.

Und dies nicht zu Unrecht, wie Marcel-Reich Ranicki 1974 in einem in der FAZ erschienenen Artikel zum 75. Geburtstag Kästners treffend bemerkte: "Zwar war er nicht emigriert, wohl aber waren es seine Bücher, die damals in der Schweiz erschienen. Kästner ist Deutschlands Exilschriftsteller honoris causa. Er hat in jenen Jahren nichts geschrieben, dessen er sich hätte später zu schämen brauchen."

Wenn Kästner nach dem Zweiten Weltkrieg gefragt wurde, weshalb er während der Nazizeit in Deutschland geblieben ist, so rechtfertigte er sich mit der Antwort, er habe als selbst betroffener Zeitzeuge Stoff sammeln wollen für einen großen Roman über das "Dritte Reich".

Diesen Roman hat Kästner bekanntlich nie vorgelegt, er ist vielmehr an diesem ehrgeizigen Romanprojekt gescheitert. Warum er nicht in der Lage gewesen ist, den mehrfach angekündigten Roman zu schreiben, erläuterte Kästner 1961 in seinen Vorbemerkungen zu "Notabene 1945", seinem nachträglich bearbeitetem Tagebuch aus dem Jahre 1945. Dort heißt es: "Das Tausendjährige Reich hat nicht das Zeug zum großen Roman. Es taugt nicht zur großen Form, weder für eine 'Comédie humaine' noch für eine 'Comédie inhumaine'. Man kann eine zwölf Jahre lang anschwellende Millionenliste von Opfern und Henkern architektonisch nicht gliedern. Man kann Statistik nicht komponieren. Wer es unternähme, brächte keinen großen Roman zustande, sondern ein unter künstlerischen Gesichtspunkten angeordnetes, also deformiertes blutiges Adressbuch, voll erfundener Adressen und falscher Namen."

Wenn Erich Kästner auch während des "Dritten Reichs" nicht unter seinem eigenen Namen in Deutschland publizieren durfte, so erschienen seine alten und neuen - nun, im Gegensatz z. B. zum Roman "Fabian" (1931) allerdings politisch unverfänglichen - Bücher doch weiterhin in der Schweiz. Auch in Deutschland selbst veröffentlichte Kästner unter Pseudonym weiterhin Texte und betätigte sich schriftstellerisch, unter anderem schrieb er das Drehbuch zum "Münchhausen"-Film von 1943. Kästner leistete zwar keinen offenen Widerstand gegen das Nazi-Regime, es ist jedoch vielfach bezeugt, dass er sich persönlich im Stillen und ohne davon nach dem Krieg viel Aufhebens zu machen für viele Verfolgte und Unterdrückte der NS-Diktatur einsetzte, so weit es in seiner Macht stand.

In seinen Vorbemerkungen zu "Notabene 1945" berichtet Kästner, dass er während der Kriegsjahre dreimal je etwa ein halbes Jahr lang Tagebuch geführt habe: 1941, 1943 und 1945. Die Aufzeichnungen des Jahres 1945 überarbeitete er zu "Notabene 1945". Die übrigen Tagebuchaufzeichnungen blieben (bis auf Auszüge) bislang unveröffentlicht.

Kästners komplettes Kriegstagebuch, das er in einem von ihm als "Blaues Buch" bzw. "Blaubuch" bezeichnetem Blindexemplar eines Buches (also einem zwar eingebundenen, aber mit unbedruckten Seiten versehenem Buch) in Kurzschrift notierte sowie die ebenfalls in diesem "Blauen Buch" zu findenden Notizen zu seinem Romanprojekt über das "Dritte Reich" sind nun von Ulrich von Bülow und Silke Becker im Auftrag der Deutschen Schillergesellschaft als Marbacher Magazin herausgegeben worden. Die allesamt in der Gabelsberger'schen Kurzschrift notierten Einträge Kästners im aus unerklärlichen Gründen bislang noch nicht separat publizierten und auch nicht in die Kästner-Werkausgabe von 1998 aufgenommenen "Blauen Buch" wurden für diese Edition von Herbert Tauer erstmals komplett transkribiert. Ulrich von Bülow erläutert in einem 20-seitigen Nachwort die Editionsprinzipien und die Bedeutung des "Blauen Buchs" im Leben und Werk Erich Kästners. Ein umfassender Anmerkungsapparat sowie ein ausführliches Personenverzeichnis geben in der Regel ausreichend Auskunft über die von Kästner im Tagebuch und in den Romannotizen erwähnten Personen bzw. die jeweiligen zeithistorischen Hintergründe.

Den Großteil des Buches füllt Kästners Kriegstagebuch, das Einträge aus den Jahren 1941, 1943 und 1945 enthält. Detaillierte Notizen über Privates, geschweige denn pikante Details zu Kästners noch unzureichend erforschten Lebensumständen im "Dritten Reich", sucht man in seinem Kriegstagebuch vergebens. Kästner versucht die eigene Person vielmehr möglichst außen vor zu lassen und erweist sich stattdessen als aufmerksamer Chronist des Alltagslebens der Kriegsjahre von 1941 bis 1945. Sein Bekanntenkreis schloss sowohl Gegner als auch Befürworter des Nazisystems ein. Er berichtet von den Gesprächen an seinem Stammtisch, dem auch bekennende Nationalsozialsten angehörten, notiert Nachrichten und Bekanntmachungen aus der Presse, erzählt Witze, die man sich seinerzeit hinter vorgehaltener Hand zuflüsterte, bleibt aber meist nur Chronist und hält sich mit Bewertungen des von ihm Beobachteten und dem Tagebuch Anvertrauten merklich zurück. Je länger der Krieg dauert und je vorhersehbarer der Untergang der Nazi-Barbarei wird, desto schärfer trennt Kästner zwischen dem verbrecherischen Regime und dem Großteil der Bevölkerung, der den Terror der Nazis und die Kriegsgräuel habe erdulden müssen. Die deutsche Bevölkerung ist nach Kästners Überzeugung das erste Opfer der Nazis gewesen.

Am 8. Mai 1945, dem Tag der deutschen Kapitulation, schreibt er in sein Tagebuch: "Da haben nun die drei größten Mächte der Erde fast sechs Jahre gebraucht, um die Nazis zu besiegen, und nun werfen sie der deutschen Bevölkerung, die antinazistisch war, vor, sie habe die Nazis geduldet! Deutschland ist das am längsten von den Nazis besetzte und unterdrückte Land gewesen, - nur so kann man die Situation einigermaßen richtig sehen. Sie sollen nur statistisch feststellen, wie viele Deutsche von den Nazis zugrunde gerichtet worden sind! Dann werden sie merken, was los war!"

Kästners im "Blauen Buch" zu findende Notizen zu seinem Romanprojekt legen nahe, dass ihm wohl ein breit angelegter Entwicklungs- und Gesellschaftsroman über das "Dritte Reich" vorgeschwebt hat, für den das Kriegstagebuch sowie etliche dem "Blauen Buch" beigelegte Materialien, z. B. Zeitungsausschnitte, als Stoffsammlung dienten. Einige der Romannotizen weisen Kästner als tiefsinnigen und scharfzüngigen Kommentator seiner Zeit aus. Zum Beispiel: "Das Dritte Reich: der gewaltigste Versuch, den Charakter des ganzen deutschen Volkes zu versauen." Oder folgende auch für unsere heutige Zeit leider noch immer gültige Erkenntnis: "Politik ist ein viel schamloseres Gewerbe als Kuppelei, Unzucht und ähnliche Lappalien."


Titelbild

Erich Kästner: Das Blaue Buch. Kriegstagebuch und Roman-Notizen.
Deutsche Schillergesellschaft, Marbach 2006.
397 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-10: 3937384200

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