Antideutsche Utopie
Eine Neuauflage von Arno Schmidts "Gelehrtenrepublik" wartet mit einem gelungenen Nachwort von Dietmar Dath auf
Von Jan Süselbeck
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDeutsch ist eine tote Sprache. Zumindest in der Zeit, in der der Übersetzer in Arno Schmidts jetzt bei Suhrkamp neu aufgelegtem "Kurzroman aus den Roßbreiten", "Die Gelehrtenrepublik" (1957), Chr. M. Stadion (ein Anagramm des Namens Arno Schmidt), den Bericht eines gewissen Charles Henry Winer aus dem Amerikanischen ins Deutsche überträgt (nämlich im Jahr 2008). In seine Muttersprache hat der spießige und vollkommen begriffsstutzige "Restdeutsche" Stadion ("I unter 124 noch!") den Bericht Winers gemäß "Interworld=Gesetz Nr. 187, vom 4. 4. 1996" übersetzt, "dessen § IIa die Möglichkeit der Veröffentlichung politisch oder irgend anstößiger Broschüren durch Übertragung in eine tote Sprache" erlaubt.
Da ist der Atomkrieg erst wenige Jahre vorbei, und Winer hat über seine gefährliche Expedition in den so genannten Hominidenstreifen im Westen der USA geschrieben, wo er allerhand mutierte Wesen trifft. Eklige Riesenspinnen wollen ihn umbringen, und er hat eine leidenschaftliche Affäre mit einer Zentaurin namens Thalja ("Bis ich anfing, kreuzlahm zu werden. Vom schnalzenden Französisch." Anmerkung des Übersetzers: "Unverständlich. - Wie sich aus dem Vorhergehenden [...] ergibt, ist die Sprache der dortigen Zentaurenform ein, leicht korrumpiertes, Amerikanisch.")
Am Ende landet Winer auf einer stählernen Insel, der IRAS (International Republic for Artists an Scientists), auf der die wichtigsten Autoren der Weltliteratur eine - allerdings immer noch in die zwei Machtblöcke des Kalten Kriegs geteilte - "Gelehrtenrepublik" unterhalten und mehr oder weniger faul an ihren Büchern werkeln: "Sie verlottern meist total! Und sind am Ende ihrer ersten 2 Probejahre restlos fertig - nur mit einem Buch freilich nicht!" Unter der Oberfläche des utopischen Geisteselysiums brodeln jedoch knüppelharte Spionagekonflikte. Entführten Schriftstellern werden von den Sowjets die Gehirne entnommen und Tieren eingesetzt.
Natürlich ist das noch lange nicht alles, und in diesem putzmunteren und kunterbunten Text passieren dermaßen viele aberwitzige bis obszöne Dinge, dass ein Versuch einer zufriedenstellenden Zusammenfassung dieser vielschichtigen Prosa absurd wäre. Kurz: Wer den "Kurzroman" noch nicht kennt, sollte ihn dringend lesen, und die neue Suhrkamp-Ausgabe ist dazu eine gute Gelegenheit, zumal sie ein wundervolles Nachwort des vielschreibenden Science-Fiction- und Splatter-Horror-Fans Dietmar Dath enthält, der gerade im selben Verlag seinen neuesten Roman "Dirac" (vgl. literaturkritik.de 09/2006) veröffentlicht hat.
Daths lustige Idee, Schmidts Text mit Stephen Kings Werk in Verbindung zu bringen, ist zwar vollkommen absurd, weil Schmidt die verblüffenden Anspielungen auf den amerikanischen Bestseller-Autor gar nicht intendiert haben kann, die Dath in der "Gelehrtenrepublik" ausmacht. Aber erstens sind derartige interpretatorische Verschwörungstheorien im Schmidt-Kosmos ohnehin usus, und zweitens stellt sie Dath im Wissen um ihre Unhaltbarkeit an, um ihre Überraschungseffekte dabei um so genüsslicher zu zelebrieren.
Außerdem ist das nur ein burlesker Nebengedanke seines klugen Nachworts. Viel bemerkenswerter ist darin Daths Einsicht, nach der die deutsche Sprache, "als Schmidt nach dem Zweiten Weltkrieg seine literarische Laufbahn begann, tatsächlich" zu dem geworden war, wozu sie in seinem Kurzroman erklärt wird: "eine tote Sprache, verendet am Konformismus und Autoritarismus der Sprecher, als Kunstwerkzeug stumpf". Der Grund dafür ist die deutsche Tradition, die durch diese Sprache hindurch in den Nationalsozialismus geführt hat. Und die schwierige Frage, der sich ein avantgardistischer deutscher Autor wie Schmidt nach Auschwitz zu stellen hatte, lautete, mit Dath gesprochen, in der Tat kurz und knapp: "Wie schreibt man postfaschistisch, ohne sich auf Onkelton und Menschelei, auf Böll und Kempowski zurückzuziehen?"
Genau dieses Problem hat Schmidt in seinen Texten anzugehen versucht, und das macht seine Kunst so groß: "Schmidts konzise Sentenzen und Absätze haben, um mit einem Begriff aus den Bereich der Graphikanwendungen gegenwärtiger Computersysteme zu reden, einen so hohen bpi-(bit per inch-)Index, daß die Darstellungsdichte das Erzählkorsett an mehreren Stellen überdehnt, haarfein zerreißt und so ein fremdartiges Licht hereinläßt, das eine enorme historische Weite ausleuchtet - ein geschichtsphilosophisches Menscheitspanorama", schreibt Dath.
Auch streicht der "F.A.Z."-Redakteur Dath hier noch einmal gebührend heraus, wie radikal Schmidt in diesem Text und in der beginnenden Kulminationsphase des Kalten Kriegs für die kommunistische Industrialisierung und Kollektivierung der Landwirtschaft Partei ergriff. Man könne heute "nur darüber staunen, wie eindeutig ein westdeutscher Schriftsteller Ende der fünfziger Jahre" dies gewagt habe, wo doch derzeit die "weltweite Konsens-Historiographie" gerade diesen Aspekt der sowjetischen Wirtschaftpolitik "zu den grausigsten Untaten der Kommunisten" zähle, erinnert Dath.
Walter Benjamin und Sigmund Freud heißen übrigens die Gewährsmänner, mit deren passenden Zitaten er Schmidt in Sachen Sprache und Politik zu charakterisieren versucht, und es sind die schlechtesten nicht: "Nur wer weiß, daß es keine deutsche Sprachtradition gibt, die der Moderne würdig wäre, kann sich daran machen, eine zu erschaffen", urteilt Dath. Seine Diagnose, dass die "Gelehrtenrepublik" ein gelungenes Beispiel für den gezielten Missbrauch des Deutschen sei, verstanden als "Kritik an der Unfertigkeit des deutschen Menschen" (Benjamin), sollte Leseempfehlung genug sein.
Überhaupt: Nachdem man den deutschen Fußball-WM-Patriotismus-Taumel dieses Jahrs mit Ach und Krach überstanden hat und sich an Deutschlandflaggen allerorten nun offenbar dauerhaft gewöhnen soll, tun Charles Henry Winers zynische Beschimpfungen einfach gut: Dass die Deutschen nach dem Atomkrieg verschwunden seien, "'ist ja für uns I Segen!' sagte ich energisch: Die, ohne deren Beteiligung einem jeden Weltkrieg ja gleichsam etwas gefehlt hätte!" Genau, die.
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