Erschreckend klar und tief verstörend
Vor 250 Jahren wurde der geniale Autor, Psychologe und Gelehrte Karl Philipp Moritz geboren
Von Rolf-Bernhard Essig
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSigmund Freud, Johann Wolfgang von Goethe, Gotthold Ephraim Lessing und Johann Heinrich Pestalozzi in einer Person, so könnte man einen der hellsten Köpfe des 18. Jahrhunderts charakterisieren. Allerdings kam Karl Philipp Moritz aus dem Dunkel einer harten Kindheit und Jugend. Sein Kampf, um ans Licht zu kommen, währte lange, war bitter und endete mit gerade einmal 37 Jahren. Dass er in dieser Zeit ein so reiches psychologisches, philosophisch-ästhetisches, pädagogisches, philologisches und nicht zuletzt literarisches Werk schaffen konnte, erscheint fast unglaublich. Es hätte ihn getröstet, dass er nach einem Vierteljahrtausend noch immer lebendig ist.
Denn unter den gerade einmal zwei Romanen, die aus dem 18. Jahrhundert übrig geblieben sind, wird nur der eine außerhalb von Schule und Universität weiterhin gelesen: "Anton Reiser" von Karl Philipp Moritz. Wohingegen Goethes Briefroman "Die Leiden des jungen Werthers" romantische Gemüter zu sentimentaler Lektüre anregt, stört der "Anton Reiser" den Leser auf und zwar in höchst produktiver Weise. Was Moritz hier 1785-1790 veröffentlichte, bleibt bis heute einzigartig und unerhört modern.
Wahrscheinlich gibt es nach wie vor keinen besseren, spannenderen, lohnenderen Weg, um diesen Autor und dabei sich selbst kennen zu lernen. Denn Moritz hat Elemente seiner eigenen Kindheit und Jugend in dem Werk derartig genau erkundet, dass es immer noch anrührt. Die kluge Wahrhaftigkeit ist dabei so groß, dass man an hundert Stellen versucht ist, an den Rand zu schreiben: "Wie bei mir!" Nicht umsonst hat man immer wieder Moritz den Titel "Vater der Psychologie" verliehen.
Wer das Buch nur als Autobiografie liest, verpasst das Wichtigste, denn "Anton Reiser" trägt mit allem Recht den Untertitel "Ein psychologischer Roman". Moritz schildert in dem Buch einerseits schmerzhaft genau die große finanzielle, geistige und emotionale Armut, in der Anton Reiser aufwächst. Er deckt darüber hinaus in erschreckend klaren Kommentaren die psychischen Mechanismen dieser Persönlichkeitsverbildung auf. Nie zuvor und selten danach stellte ein Autor so detailreich und nachvollziehbar dar, wie ein Mensch seelisch zerrüttet wird, bloß weil er dem Unglück der Verhältnisse unterworfen ist. Im jungen Anton Reiser werden Heuchelei, Selbstverachtung, Haltlosigkeit und Schwärmerei geradezu gezüchtet durch bigotte Eltern und geizige Lehrherren, durch züchtigende Lehrer, seltsame Prediger und schließlich durch die Literatur, die Rettungsanker und Verhängnis zugleich ist. "Lesen als Sucht, Schreiben als Krankheit" nannte Gudrun Schury einmal, was Moritz da vorführt. Die Bücher gaukeln Reiser Traumbilder vor, er verliert sich in dieser Ersatzwelt und wird fast untauglich zu Alltagspflichten. Die Gier, selbst ein Autor zu werden, verführt ihn dazu, Seiten um Seiten mit qualitätslosen Nachahmungen zu füllen. Er und ein armer Freund und Mitpoet lesen sich die Elaborate gegenseitig vor, wobei sie einander Begeisterung vorspielen, obwohl sie sich zu Tode langweilen. Im Gegensatz zu Reiser findet Karl Philipp Moritz für seine Literatur die richtige Form in einem gedankenvoll strukturierten Roman, der durchzogen ist von einem mal galligen, mal gutmütigen Humor.
Den hat er sich mühsam erstreiten müssen. Als Moritz am 15.9.1756 in Hameln geboren wurde, sang ihm niemand an der Wiege, dass er einmal Professor an der Berliner Akademie sein würde. Die Eltern gehörten einer protestantischen Sekte an, der Vater war glückloser Musiker, Geld rar, Streit die Regel, und das Kind wuchs in Lieblosigkeit und unter häufigen Krankheiten heran. Die Lehre bei einem Hutmacher, in die man Moritz mit zwölf Jahren steckte, war ihm unerträglich - er wurde beschimpft, misshandelt und musste hungern. Erst ein gescheiterter Selbstmordversuch erweichte 1770 die Eltern, und er durfte dank einiger, teils allerdings demütigender Stipendien das Gymnasium besuchen. Die Liebe zur Literatur und zum Theater trieben Moritz fort, zuerst in geistige Fluchtwelten, dann zur tatsächlichen Flucht.
Doch bei einer Schauspieltruppe nahm man ihn nicht auf. Wieder fand er zu seinem großen Glück Gönner und konnte ein Studium in Erfurt, dann in Wittenberg aufnehmen, wurde Lehrer, Magister gar und 1779 Konrektor am Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin. Wie mühsam dieser Weg war, kann man sich kaum vorstellen; und er ist keineswegs am Ziel.
Wie sein Held bleibt auch Moritz ein "Reiser". Geistig und körperlich regsam bis zur Ruhelosigkeit, veröffentlichte er 1780 das moralische Schauer-Theaterstück "Blunt oder der Gast", dann pädagogische Schriften und eine "Sprachlehre für die Damen", außerdem wanderte er viel und über weite Strecken. Die "Reisen eines Deutschen in England im Jahr 1782" werden sein erster Bucherfolg. Depressionen befallen ihn trotzdem immer wieder, auch die Wohngemeinschaft mit seinem Schüler und Freund Karl Friedrich Klischnig hilft ihm nicht. Zur pädagogischen und literarischen kommt ab 1784 seine Redakteurstätigkeit für die "Vossische Zeitung", 1785 erscheint sein zweiter Roman "Andreas Hartknopf": witzig, bissig, modern.
Hoch bedeutsam erlebt Moritz seine Italienreise ein Jahr später. Sie gewährt ihm ein seltenes Glück. Als Schüler hegte er den Wunschtraum, dem angebeteten Dichter des "Werther" nahe sein zu dürfen, und sei es als Diener. Nun trifft er Goethe in Rom, freundet sich mit ihm an und wird von ihm, als er sich den Arm bricht, gepflegt. Damals schreibt Goethe an Charlotte von Stein den Satz: "Er ist wie ein jüngerer Bruder von mir, von derselben Art, nur da vom Schicksal verwahrlost und beschädigt, wo ich begünstigt und vorgezogen bin." Dieser jüngere Bruder ist bald eine unverzichtbare Hilfe, denn Goethe kommt mit der Vers-Fassung seiner "Iphigenie" nicht voran, Moritz hingegen arbeitet an dem "Versuch einer deutschen Prosodie", die dem Älteren wie ein "Leitstern erscheint". Die 1788 erschienene Schrift "Über die bildende Nachahmung des Schönen" wirkt sich mächtig auf die Autonomie-Ästhetik der Klassik aus. Dankbar setzt sich Goethe für Moritz in Berlin ein, der 1789 zum Professor wird. Seine Vorlesungen gelten bald als so originell, dass hohe Herrschaften ihnen gerne beiwohnen.
Drei Jahre später, inzwischen sind auch seine mythologisch-religionshistorische Schrift "Anthousa oder Roms Alterthümer" und seine "Götterlehre" erschienen, heiratet er die sechzehnjährige Christiane Friederike Matzdorff, lässt sich von ihr im Dezember wieder scheiden, heiratet sie fünf Monate darauf wieder. Unermüdlich veröffentlicht er weiter, vor allem die "Reisen eines Deutschen in Italien", die "Vorlesungen über den Styl" sowie den "Allgemeinen deutschen Briefsteller". Am 26. Juni 1793 stirbt er an einem langwierigen Lungenleiden.
Viele Anekdoten machten Moritz schon zu Lebzeiten zu einem beliebten Gegenstand des Spotts, wie glaubhaft sie sind, sei dahin gestellt. Klar ist, dass er zwar ein geachteter Publizist und Gelehrter mit weitem geistigen Horizont, dazu aber ein "Schreckensmann" blieb, wie Arno Schmidt das nannte, weil er eine zu schreckliche Sozialisation hinter sich hatte und schon deshalb öfter aus dem Rahmen und in tiefe Verzweiflung fiel. Er scheute aber auch nicht die schrecklichen Abgründe der menschlichen Psyche.
Sein revolutionäres "Magazin zur Erfahrungsseelenkunde" öffnete er für alle, die eigene oder glaubhaft überlieferte psychische Fallgeschichten dokumentieren wollten. Und die Einsendungen kamen reichlich. Dabei ging es um Wahrnehmungspsychologie, frühkindliche Prägung und natürlich um seelisches Leiden. Insgesamt zehn Bände des Magazins belegen, wie auch die Menschen vor zweihundert Jahren das Burn-out-Syndrom kannten, Verfolgungswahn, Höhenangst, Zwangsstörungen aller Art, wie Liebe, Tod, Vorgesetzte, Träume, die merkwürdigste Empfindungen in ihnen auslösten. Eine solche empirische Wissenschaft von der Psyche, wie sie hier gepflegt wird, gab es bis dahin nicht. Erst sie machte den optimistischen Denker der Aufklärung mit seinen vielen verdrängten Seelenzuständen und Geisteskräften bekannt. Moritz trug selbst viel zu seiner Zeitschrift bei, die einen unglaublich spannenden Einblick in die Geschichte der menschlichen Seele bietet.
Wer nun mit Moritz näher bekannt werden möchte, hat dazu gute Gelegenheit, denn außer den vielen Ausgaben des "Anton Reiser" erschien die exzellente zweibändige Werkausgabe im Deutschen Klassikerverlag, dazu - halb Lesebuch, halb Einführung - ein höchst anregendes "Karl Philipp Moritz-ABC" von Lothar Müller bei Eichborn und schließlich von Willi Winkler ein gediegener Band in der Reihe der Rowohlt-Monografien. Dass sich so eine Beschäftigung lohnt, beweisen Bewunderer seit über 200 Jahren, darunter Jean Paul, Hugo von Hofmannsthal, Walter Benjamin, Arno Schmidt und Peter Handke.
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