Ein neuer Klassiker

Karl Philipp Moritz zu seinem 250. Geburtstag

Von Markus BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alexander Košenina sagt es deutlich: "Karl Philipp Moritz ist schon lange kein Außenseiter mehr. [...] 250 Jahre nach seiner Geburt am 15. September 1758 hat Moritz endlich den Weg auf den Parnaß gefunden." Hinweise für das Zutreffen dieser Einschätzung sind ihm einerseits die Entstehung der kritischen und kommentierten Edition, deren erster Band mit der Ausgabe der "Anthusa" in diesem Jahr begann, und andererseits die seit Jahren intensivierte Forschung zu den historischen und literarischen Kontexten der vielfältigen Produktion des 1793 mit 36 Jahren jung verstorbenen Autors.

Wurden mit der zweibändigen Werkausgabe im Klassiker-Verlag 1997/99 erstmals die wichtigsten Texte zuverlässig präsentiert und kommentiert, so bezeugt die neue große, von der DFG unterstützte Edition der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften die durch neue Funde erweiterte Einsicht in die Bedeutung des Dichters, Reisenden, Pädagogen, Psychologen, Grammatikers, Mythografen und Ästhetikers des späten 18. Jahrhunderts, dessen Schriften und Briefe in vorher nie gesehener Breite in 13 Bänden versammelt werden sollen. Nicht ganz pünktlich zum Geburtstagsjubiläum scheint es die Drucklegung von Moritz bekanntestem Werk geschafft zu haben: der psychologische autobiografische Roman "Anton Reiser" soll dieser Tage als nächster Band der Ausgabe erscheinen.

Dass Košenina zu seiner Schlussfolgerung gelangt, ist naheliegend: Der Germanist gilt seit seiner Dissertation über die anthropologischen Implikationen der Schauspielkunst im späten 18. Jahrhundert als ausgewiesener Experte der unterhalb der Höhenkammliteratur mit ihrer literaturhistorischen Einteilung von Sturm und Drang, Aufklärung, Klassik und Frühromantik stattfindenden innovativen ästhetischen und anthropologischen Diskurse, an denen auch Moritz beteiligt war, und hat seitdem durch eine Reihe von Publikationen dazu beigetragen, ein differenzierteres Bild der 1780er- und '90er-Jahre zu zeichnen. Die Bedeutung Moritz' in diesen Kontexten zu übersehen, ist eine schlichte Unmöglichkeit und die von Košenina souverän überblickte Forschungsliteratur bestätigt seit Jahren die Ausnahmestellung Moritz' im "take off" der sich entpuppenden Moderne.

Wie Košenina in dem vorliegenden Band in wenigen Aufsätzen zeigt, lassen sich auch Moritz' bisher eher vernachlässigte 'kleine' Publikationen als Beitrag zur eigenständigen Konstruktion der Welt dieses Genies lesen und würdigen. Košenina sieht als verbindenden Gedanken in seinen sieben Kapiteln "die allmähliche Verfertigung des Schriftstellers Moritz aus literarischen Experimentalanordnungen." Sie begegnen in den aphoristisch-essayistischen "Beiträgen zur Philosophie des Lebens" ebenso wie im Nachruf auf einen Kollegen am Gymnasium " Zum Grauen Kloster", in der malerischen Beschreibung der ungewöhnlichen, weil meist per pedes bewältigten Reise in England oder in den Fragmenten seines Kriminalstücks "Blunt", weiterhin in den wenigen Gedichten, die Moritz König Friedrich II widmete und naürlich auch in seinen anthropologischen Fallbeschreibungen, die das berühmte "Magazin zur Erfahrungsseelenlehre" ergänzten oder seiner Theatromanie. In der Anlage von "Blunt" etwa, des Dramas von der (versehentlichen) Tötung des Sohnes durch den Vater, sieht Košenina ähnliche anthropologische Interessen und Einsichten am Werke, wie sie auch die Fallbeobachtung der halbdokumentarischen Erzählung "Aus K...s Papieren" grundieren. Dort geht Moritz einem seiner Lieblingsthemen nach: den biografisch lesbaren Symptomen der Melancholie als Fond literarischer Form. Košeninas Interesse gilt hier wie in den anderen Aufsätzen den literarischen Implikationen einer fundamentalen lebensphilosophischen Haltung, aus der sowohl Moritz' Neugier für das individuelle Leben anderer ebenso resultiert wie seine in die Zukunft weisenden ästhetischen Neuansätze.

Moritz ist vielleicht die entscheidende Gestalt seiner Zeit im deutschsprachigen Raum, die unüberhörbar, weil bewusst und mit Gründen, "ich" sagt und zugleich sich und seinen Lesern klar machen möchte, was dieses in seinem Säkulum bedeutet. Er ist dabei gleich weit entfernt von einer idealistisch-metaphysischen Abstraktion des Humanen wie einer naturalistischen Reduktion auf den kreatürlichen Status. Dies heißt im Fall seiner Texte: beides vermischt sich zu einer vorher kaum gekannten vielgestaltigen Physiognomie seiner Zeit, die vieles aus der Vergangenheit aufnimmt, aber auch weit in die Zukunft weist, wie Košeninas kenntnisreichen Zugänge auf knappem Raum perspektivieren. (Sie stellen zugleich Vorarbeiten zu seinem Kommentar der Prosaschriften in Band 2 der erscheinenden Kommentierten Moritz-Ausgabe dar.)

Einen unterhaltsamen und zugleich in Moritz' Denken intelligent einführenden Zugang eröffnet das ABC, das Lothar Müller mit aus dem Werk geschnittenen Zitaten zusammengestellt und kommentiert hat. Ausgangspunkt ist für den Moritz-Kenner (seine Marburger Dissertation zu Moritz' "Anton Reiser" erschien als "Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis", Frankfurt 1987) die Einsicht in den basalen Trieb des Essayisten und Romanautors, einzelne Gedanken und Beobachtungen auf eigene Art neu in Worte zu fassen.

Auch Müller bemerkt bei Moritz die doppelte Perspektive sowohl der Methoden als auch Absichten, die ihn gerade in einer Epoche des weitgehenden Verlustes aller systematischen und historisch verbürgten Gewissheiten auffällig machen. Müllers Interesse entsprechend ist es die Beobachtung der Faszination für die gedruckte Schrift und das Autorendasein, die den Spätaufklärer und Pädagogen durch die doppelte Seite der Schrift unserem Verständnis adaptierbar machen: "Wann immer Moritz später von 'leeren' Namen und toten Buchstaben, die über die Menschen herrschen, sprechen wird, schwingt diese [im "Anton Reiser" geschilderte] frühe Begegnung mit dem Alphabet mit. Die Feier des Alphabets und das Mißtrauen gegen das Eigenleben der Buchstaben werden bei ihm immer verbunden sein. Das gibt Moritz' Schriften ihre innere Spannung, bewahrt sie davor, Triumphgeschichten geglückter Aufklärung und Bildung zu erzählen. [...] Überblickt man die nahezu panische Produktivität, die der Autor, Übersetzer und Herausgeber Moritz entfaltet, so könnte man auf die Idee kommen, daß er auch deshalb so viel schreiben muß, um immer neu den toten Buchstaben und leeren Namen mit den Mitteln der Schrift selbst entgegenzuarbeiten."

Damit sind die im "Anton Reiser" dargestellten und analysierten pietistischen Erziehungstorturen wie auch die soziale Deklassierung in ihren Wirkungen für das spätere Werk angedeutet und zugleich eine erst spät erkannte Aktualität impliziert, die das Abecedarium zum Kaleidoskop eines außerordentlichen Werkes verändern. Facettenreich verführt es zu immer neuen Lektüren der durch ihren Essayismus letztlich unabschließbaren Konstellationen, die noch (oder: erst) zwei Jahrhunderte später ihre Leser finden. Karl Philipp Moritz, so legt Müllers, aber auch Košeninas Band nahe, ist ein Autor für das 21. Jahrhundert.


Titelbild

Lothar Müller (Hg.): Das Karl Philipp Moritz-ABC. Anregung zur Sprach-, Denk- und Menschenkunde.
Eichborn Berlin, Frankfurt a. M. 2006.
432 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3821807776

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Titelbild

Alexander Košenina: Karl Philipp Moritz. Literarische Experimente auf dem Weg zum psychologischen Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2006.
182 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 3835300768

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