Der verlorene Sohn

Joachim C. Fests Erinnerungen handeln vom zerrissenen Charakter seines Vaters. Seinem eigenen revisionistischen Geschichtsbild bleibt der Autor trotzdem treu

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Etiam si omnes - ego non!" "Auch wenn alle mitmachen - ich nicht!", zitierte Joachim C. Fests Vater aus dem Matthäus-Evangelium. Angeblich hatte er den Spruch aus der "Ölberg-Szene". Der Titel von Fests nunmehr posthum erschienener Autobiografie - "Ich nicht" - steht nicht nur in Bezug zu diesem Wahlspruch seines bildungsbürgerlichen Vaters, sondern prangte auch wie ein allmächtiges Motto über den Nachrufen auf den kürzlich Verstorbenen.

Nun hat jedoch Robert Leicht in der "Zeit" bereits in der Bibel nachgeschlagen und festgestellt, dass dieser Satz dort so überhaupt nicht existiert, sondern - wenn überhaupt - in abgewandelter Form im Markus-Evangelium steht: "'Und wenn sie alle Ärgernis nehmen, so doch ich nicht.' (Et si omnes scandalizati fuerint sed non ego.)", zitiert Leicht und fügt hinzu: "Das Fatale aber an diesem vom Autor gar nicht hinterfragten Zitat ist der Umstand, dass der Satz für das blanke Gegenteil dessen steht, wofür er in Anspruch genommen wird, stammt er doch von ebenjenem Petrus, dem das feige Verleugnen unmittelbar zuvor von seinem Meister beizeiten ins Gesicht vorausgesagt wurde - und dann auch prompt trotz dieses großspurigen Gegenschwurs begangen wurde: Und dreimal krähete der Hahn...".

Matthias Matusseks erste, noch auf der Druckfahnenlektüre beruhende Memoiren-Rezension und seine aufgrund von Fests Tod schnell nachgeschobene Grabrede im "Spiegel" gaben jedoch zunächst die Debatten-Richtung vor, die da ungeachtet solcher textkritischen Probleme besagte: Viele, allen voran der große Buhmann Günter Grass, mochten einmal Nazis gewesen sein - der als konservativer Dunkelmann verschrieene Fest jedenfalls sei es nicht gewesen.

Er schon

Zwar wurde in fast allen Besprechungen der Fest-Erinnerungen referiert, dass sich der junge Rekrut zum Entsetzen seines katholischen Vaters sehr wohl freiwillig zur NS-Luftwaffe gemeldet habe - angeblich um seiner Einberufung zur SS zu entgehen (darauf muss man auch erst mal kommen). Aber dieser offensichtliche Widerspruch zur Hagiografie eines "stolzen Einzelgängers" Fest (Matussek) und "Mannes von Statur" (Bernd Eichinger), der von Anbeginn zu einer "skeptischen Generation" ("Neue Zürcher Zeitung") gehört und gar nicht mitgemacht habe, schien erstaunlicherweise niemandem aufzufallen.

Überhaupt: Die Sache mit der "Skepsis". Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" widmete dem "skeptischen Bürger" Fest gleich ein ganzes Dossier. Auch die "Neue Zürcher Zeitung" ließ sich nicht lumpen und pries Fests angebliche Einsicht, "dass man wachsam zu sein hat und skeptisch sein muss gegenüber den Wölfen im Schafspelz eines Weltverbesserung versprechenden Utopismus". Und selbst die "taz" betete ergeben nach, für "utopische Gestimmheiten" habe Fest "nicht nur kein Verständnis" gehabt, sondern sie "als Bedrohung" empfunden - räumte allerdings ein, er sei "nicht zu skeptisch gewesen, um die Bundesrepublik durch einen immensen intellektuellen Gestaltungswillen zu einer Erfolgsgeschichte zu machen".

Nachruf auf die Nachrufe

Selten las man einen solchen verquasten Unsinn. Ausgerechnet Fest, der als Autor der 1977 auch noch unsäglich verfilmten Führer-Nekrophilie-Bibel "Hitler" (1973) auftrumpfte und sich 1986 als langjähriger "F.A.Z."-Herausgeber zum Mentor von Ernst Noltes Historikerstreit-Revisionismus aufschwang - eben dieser zeitlebens an vorderster Front für die konservative deutsche Sache streitende Fest sollte sich nun als einsame Verkörperung des Bartleby'schen "Ich möchte lieber nicht" entpuppen?

Allein schon seine Anbiederung an Hitlers NS-Rüstungsminister Albert Speer, dessen Erinnerungen Fest brav lektorierte und offenbar glauben wollte, um sie 1999 auch noch zu einer beschönigenden Biografie zu verwursten, sollte sein angebliches "Misstrauen [gegenüber] den Ideologen" ("Neue Zürcher Zeitung") und seinen "Kampf gegen den Konformismus" ("F.A.Z.") eigentlich für alle Zeiten ad absurdum geführt haben. Während ein wirklicher Nonkonformist wie Jean Améry, der Speers Todeslager selbst überlebt hatte, dem verlogenen Verfasser der "Spandauer Tagebücher" 1975 nahe legte, doch bitte wenigstens jetzt endlich zu schweigen, war es Fest, der die schamlosen Flunkereien des ebenso lukrativ wie nebulös bereuenden NS-Bonzen bis zuletzt treu nachbetete.

Sowieso: Fest und seine Nazi-Elite. Zeitlebens geradezu obsessiv mit Hitler und dessen engster Entourage befasst, stilisierte der Biograf seine Hingabe an der Deutschen liebstes Thema zu einem schmerzvollen Opfergang. "Behelligt" habe er sich gefühlt von dem "widrigen Gegenstand", ließ der große 'Utopienskeptiker' Ende der 80er-Jahre wissen. "Seine eigene Utopie, sich den musischen und geistigen Höhepunkten der Geschichte zu widmen, der italienischen Renaissance etwa oder dem Leben Mozarts, hat er angesichts der immer wieder drängenden Zeitthemen zurückgestellt" ("F.A.Z."). Wie selbstlos: Als führender deutscher Publizist habe er sich sein "Lebensthema" natürlich nicht einfach aussuchen können wie jeder andere, erschauderte die "Welt", "es ist ihm zugefallen oder zugewiesen worden vom Schicksal".

Welche Folgen dieses schwere "Schicksal" zeitigte, fasste Fests "F.A.Z."-Herausgeber-Nachfolger Frank Schirrmacher in seinem betont bescheidenen Nachruf so: "Kein Buch, das seit 1945 in deutscher Sprache erschienen ist, ist bedeutender als Fests 'Hitler', und kein anderer Autor war dem Verfasser des monumentalen Werks, war Joachim Fest, vorher oder nachher stilistisch und gedanklich gewachsen."

Dem Führer hätte es sicher gefallen

Da tritt jemand in die Fußstapfen jener aristokratisch verbrämten Großmannssucht, von der auch Fest langjähriger "F.A.Z."-Literaturressortleiter Marcel Reich-Ranicki, Überlebender des Warschauer Gettos, ein Liedchen singen kann. Eine der bizarrsten Erinnerungen in seiner Autobiografie "Mein Leben" (2000) ist die, die von seinem Besuch bei einem Empfang in Berlin-Dahlem berichtet, bei dem Fests Verleger Wolf Jobst Siedler das Erscheinen von "Hitler. Eine Biographie" feierte. Reich-Ranicki und seine Frau Tosia erstarrten vor Schreck, als sie begriffen, dass nicht der Autor Fest, sondern Albert Speer der Ehrengast des Abends war: "Dieser Herr war ein Verbrecher, einer der schrecklichsten Kriegsverbrecher in der Geschichte Deutschlands. Er hatte den Tod unzähliger Menschen verschuldet. Noch unlängst hatte er zu den engsten Mitarbeitern und Vertrauten Adolf Hitlers gehört. Er war vom Internationalen Militärtribunal in Nürnberg zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt worden", erinnert Reich-Ranicki.

Auf einem Tischchen erkannte Reich-Ranicki den druckfrischen 1200-Seiten-Band Fests: "Auf dem schwarzen Umschlag war mit großen weißen Buchstaben der lapidare Titel gedruckt: Hitler. Was diese Ausstattung des Buches suggerieren sollte, worauf hier mit Entschiedenheit Anspruch erhoben wurde, konnte man nicht verkennen: Pathos war es und Monumentalität." Vielleicht hätte auch Frank Schirrmacher vor seinem überschwänglichen Lob dieses peinlichen Wälzers besser einfach noch einmal nachlesen sollen, mit wem er sich mit einem solchen Urteil nun noch einmal gemein gemacht hat. Reich-Ranicki erinnert sich: "Speer sah [die Biografie] offensichtlich mit Genugtuung. Verschmitzt lächelnd blickte er auf das feierlich aufgebahrte Buch und sagte bedächtig und mit Nachdruck: 'Er wäre zufrieden gewesen, ihm hätte es gefallen.'" Gemeint war Adolf Hitler.

Reich-Ranicki fragt sich in seiner Autobiografie, wieso sein "Freund" Joachim Fest ihn damals nicht vorab darüber informiert habe, wer da mit seinem Einverständnis als Ehrengast zu seiner Buchvorstellung geladen war: "Vielleicht deshalb, weil Fest ein Mensch ist, dessen Ichbezogenheit und Eigenliebe in Selbstsucht, bisweilen sogar in Hartherzigkeit übergehen und häufig den Mangel an tieferem Interesse für anderen Menschen zur Folge haben."

Die asiatische Tat

Hannes Heer erinnert in seinem 2005 erschienenen Buch "Hitler war's Die Befreiung der Deutschen von ihrer Vergangenheit" daran, dass Joachim Fest mit seinem in viele Sprachen übersetzten "Meisterwerk der Geschichtsschreibung" (Schirrmacher) "zur ersten Adresse für alle diejenigen geworden" war, "die die Geschichte der Nazizeit umzuschreiben gedachten". "Hitler kam aus dem Nichts und riß die Welt mit ins Nichts, die ihn hatte groß werden lassen", fasst die "Neue Zürcher Zeitung" den intellektuell durchaus bescheidenen Inhalt des nicht tot zu kriegenden Bestsellers zusammen, der in der traditionell-raunenden Mystifizierung Hitlers als "Teufel" und Inkarnation des "Bösen" rezipiert wurde.

Dass sich Hitlers verhängnisvolle Macht über die wehrlosen Deutschen dem rationalem Begreifen entziehe, war Fests oft gepredigtes Credo. Wenn er also Mitte der achtziger Jahre Thomas Mann in einem Essay jeglichen politischen Sachverstand absprach, musste er wohl insgeheim auch sich selbst gemeint haben - denn sonderlich weit über Manns dämonischen "Doktor Faustus"-Mythos war auch Fest in seinem nobel formulierten Hitler-Schmöker nie hinausgekommen: Hitler wird hier als kein Mensch mit Privatleben, sondern als ein reiner Staatsmann vorgestellt, der sich von den deutschen Menschen, die ihm folgten, als unmenschliches, maskenhaftes Etwas abhob. Dem wiederspricht übrigens Fests "Untergang"-Drehbuch, das Hitler plötzlich als Privatmenschen im Führerbunker beobachtet und - nicht zuletzt durch Eichingers Verfilmung mit Bruno Ganz in der 'einfühlsamen' Hitler-Hauptrolle - ganz neue Dimensionen einer deutschen 'Opferisierung' (Kurt Pätzold) eröffnete.

Viele Deutsche hätten sich nach dem Krieg "im Zerknirschungsspiel auf die Suche nach einem gut sichtbaren Platz auf der Selbstanklagebank" gemacht, klagt Fest nun auch in seinen Memoiren. Damit knüpft er lediglich an das an, was er bereits in den achtziger Jahren verstärkt propagiert hatte. Schon damals betrieb Fest den "Ausbruch aus dem angeblichen Zwangskorsett einer 'kollektiven Schuldbesessenheit'" der Deutschen energisch, wie Heer resümiert. Fest ließ dafür den revisionistischen Historiker Ernst Nolte in seiner "Zeitung für Deutschland" breit die Frage aufwerfen, ob Hitler nicht lediglich präventiv auf Stalins "asiatische Tat" reagiert habe - den Gulag nämlich, der womöglich "ursprünglicher als Auschwitz" gewesen sei.

Steigbügelhalter Ernst Noltes

In seinem letzten "Spiegel"-Interview vom 21. August 2006 behauptete Fest über diese Inauguration des "Historikerstreits" bauernschlau: "Ich habe Noltes Text veröffentlicht, weil in einer liberalen Gesellschaft ein solcher Debattenbeitrag erlaubt sein muss. [...] Ich hielt Noltes Auffassung, dass der Faschismus nur eine Reaktion auf den Bolschewismus war, für falsch. Aber er hatte alles Recht, sie einmal in dieser Gesellschaft zu äußern."

Reich-Ranicki wusste es schon Jahre zuvor besser: "Ich habe an diesem fatalen Historikerstreit gelitten. Ich habe mich geschämt, denn er ging von der 'Frankfurter Allgemeinen' aus - und sie spielte in ihm keine rühmliche Rolle. Ich habe mich geschämt, denn er wurde von Joachim Fest inspiriert und zeitweise organisiert".

Selbst seine eigenen Memorien strafen Fests Behauptung, er sei damals nicht Noltes Meinung gewesen, nun noch einmal Lügen. Betet er doch auch hier Noltes revisionistische Thesen nochmals und vollkommen ungebrochen nach, ja spitzt sie sogar zu: "Schon in den dreißiger Jahren hätten der Kommunismus und in seinem Gefolge der Nationalsozialismus jeden unvoreingenommenen Beobachter zur grundsätzlichen Gegnerschaft anleiten müssen", belehrt Fest seine Leser in "Ich nicht", um seine eigene berüchtigte "Skepsis" und seinen historischen Weitblick noch einmal gebührend zu unterstreichen. Er habe zudem gesehen, "daß das kommunistische Regime der DDR im Alltag oft schikanöser und undurchlässiger war als die braune Herrschaft". Kurz: "Nie vergessen darf man bei alledem, daß es dem Kommunismus gelungen ist, jede Gleichsetzung mit dem Nationalsozialismus auf lange Dauer zu verhindern. Es war und ist sein größter Propagandaerfolg."

Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Nicht nur der Gulag, selbst die DDR sei schlimmer gewesen als der Nationalsozialismus! Und dass man das bis heute nicht sagen dürfe, sei der Erfolg einer bis heute existierenden kommunistischen Propaganda! So gesehen hat Felicitas von Lovenberg in ihrer begeisterten Rezension von Fests Erinnerungen wohl wirklich Recht damit, wenn sie bemerkt, in diesem Buch sei Fest "die Treue zu sich selbst wichtiger geblieben als fremde Erwartungen."

So viel zur "Kühle des Blicks" und "Höhe des Stils", die die F.A.Z. ihrem verstorbenen Ex-Herausgeber in einem Artikel über ihn und seine Bücher zuletzt noch einmal stolz bescheinigte. Vor diesem "Homo politicus" ("N.Z.Z."), dem in seiner Jugend der Sinn "kaum nach Politik" stand ("N.Z.Z."), verbeugte man sich nun also im Feuilleton noch einmal kollektiv, ja übte sich teils sogar im Fest'schen "Sich gerade machen" (Matussek). Geradezu im Kasernenhofton rief uns der "Spiegel"-Kulturressortleiter zu: "Durchsage also an den Betrieb, an die Buchhändler, an die Leser: Sobald sie damit fertig geworden sind, den Grass-SS-Juckreiz zu kratzen, das wichtigere, das wahrhaft große Buch dieses Herbstes ist das von Joachim Fest".

Quälend redundante Memoiren

Wer Matusseks Rat brav folgt und sich der märtyrerhaften Selbstkasteiung unterzieht, Fests Buch gewissenhaft zu studieren, fragt sich sehr bald, wo genau der Kulturleiter des "Spiegel" jene 'wahrhafte Größe' des Textes eigentlich ausgemacht haben will. Auch die "F.A.Z."-Redakteurin Felicitas von Lovenberg beteuerte, ein "zartes Buch" gelesen, ja gar einen "literarischen Glücksfall" entdeckt zu haben.

Dass jemand, der zwanzig Jahre lang als "F.A.Z."-Herausgeber fungierte, durchaus in der Lage ist, kurze und klare Sätze zu formulieren - das ist zunächst einmal keine Nachricht, die die reißerischen Schlagzeilen über einen angeblichen Renner des Buchmessen-Herbstes hinreichend zu plausibilisieren vermag. Was Fests Buch dafür zumindest hätte präsentieren müssen, wären zeitgeschichtliche Schilderungen aus erster Hand gewesen, die überraschende Einblicke in die bürgerliche Welt vor allem der 20er-, 30er- und 40er-Jahre gewähren. Stattdessen lesen sich Fests Ausführungen über weite Strecken wie vorhersehbare Sermone jener Sorte von Rentnern, die pausenlos von der guten alten Zeit schwärmen, das Berliner Stadtschloss wieder aufgebaut sehen möchten und einem hinter vorgehaltener Hand nebenbei verraten, Hitler sei ja ein Verbrecher gewesen.

Der erste Satz des Buchs lese sich "wie in Stein gemeißelt", schrieb Harry Nutt in der "Frankfurter Rundschau". Und Fest beginnt seine Autobiografie tatsächlich mit der gewichtigen, geradezu nach Vladimir Nabokov klingenden Bemerkung: "Die Aufgabe, die ich mir gestellt habe, lautet Erinnerung." Soviel wird bei dem, was dabei herausgekommen ist, schnell klar: Fests Vater war die bestimmende Figur seines Lebens, zumindest bis zu einem bestimmten Punkt. Immer wieder wird berichtet, wie Johannes Fest von der italienischen Renaissance schwärmte und seinen ungezogenen, rabaukenhaften Sohn Joachim zu entsprechender Lektüre anregte. Ja: Von dieser als weitgehend inhaltsleere Formel durch den Text geisternden italienischen Renaissance wird der Leser auf Dauer in geradezu ermüdender Weise behelligt. In einem seltsamen Wiederholungszwang muss Fest fortwährend bemerken, er habe sich weiter fleißig der italienischen Renaissance gewidmet. Offenbar sind diese entnervenden Redundanzen bei Rowohlt überhaupt niemandem aufgefallen.

Warum sich Fest nun in den 60-er Jahren so intensiv mit Hitler und Speer zu beschäftigen begann, also dem "Gossenthema" (Johannes Fest) einer voyeuristischen Faszination für die führenden Köpfe derjenigen "Verbrecherbande", über die der Vater zeitlebens begrüßenswert und mutig offen schimpfte, sollten vielleicht einmal psychoanalytisch beschlagene Geister eruieren.

Die Fratze des Gegengottes

Klar wird jedenfalls, dass Fests Vater - ein konservativer, großdeutsch denkender und erzkatholisch eingestellter Nickelbrillenträger mit Neigung zu unbedachten Wutausbrüchen - seinem Sohn auch in Sachen Hitler die Essenz seines späteren Biografie-Bestsellers mitgegeben zu haben scheint. Sah er Hitler doch "im Bund mit dem Teufel". "Natürlich brachte mein Vater das Gespräch alsbald auf den historischen Doktor Faust, die im Mittelalter einsetzende, vielerorts betriebene Laboratoriumssuche nach Gold, Edelsteinen oder dem Stein der Weisen und endete regelmäßig bei Goethes Hauptwerk." Und an einer späteren Stelle des Buchs erfahren wir noch einmal, der Vater sei sich mit Pfarrer Wittenbrink - einem Nachbarn, mit dem sich auch der Sohn in den 40er-Jahren gern am Gartenzaun über Mozart und andere schöngeistige Themen unterhielt - darüber einig gewesen, Ihnen erscheine Hitler als "Fratze des Gegengottes".

Ansonsten unterhielt man sich über so abstruse Fragen wie die, ob es im Jenseits am Ende den heidnischen Wagner zu hören gebe oder nicht, während die befreundeten Juden fliehen mussten und ihre Leidensgenossen in Polen bereits vernichtet wurden - Letzteres war übrigens eine Information, die man im Hause Fest zunächst nicht glauben konnte und die der Vater seinem Sohn auch dann nicht anvertrauen wollte, als sie sich unüberhörbar konkretisierte. Joachim Fest schildert die 30er- und 40er-Jahre ungeachtet dessen als klischeehaftes Kindheitsidyll: "Den Sommer 1939 habe ich in glücklichster Erinnerung", schreibt er, die Ferien seien ihm ein buchstäbliches "Paradies" gewesen, und der bald darauf beginnende deutsche Vernichtungskrieg wird als "ungewisses Abenteuer" umschrieben, das eigene Leben in jener Zeit "als ein glückliches, nie gefährdetes Abenteuer".

Die Folgen für die inhaltliche Substanz des Textes sind die nahe liegenden: Die Obstbäume biegen sich unter ihrer Fruchtlast, ein Lausbubenstreich jagt den nächsten, und Papi schimpft, während Mutti ihn wieder sanftmütig beschwichtigt. Das ist zunächst einmal nicht viel mehr als der altbekannte Memoiren-Kitsch, der einem in diesem Fall aber als bemerkenswerte NS-Erinnerung verkauft wird.

Die Shoah tritt in den Hintergrund

Von jüdischen Intellektuellen im Bekanntenkreis der Familie erfährt man immerhin auch. Häufiger wird die selbstgerechte Empörung des Vaters darüber wiederholt, dass sie seine Ermahnungen, so bald als möglich auszuwandern, missachteten, ja ihn gar beschuldigt hätten, den Bestrebungen der Nationalsozialisten das Wort zu reden, Deutschland "judenrein" zu machen. Als sich der jüdische Hausfreund Dr. Meyer, der Joachim Fest die "Buddenbrooks" zu lesen gab, plötzlich nicht mehr meldet, ist man ratlos, klingelt mehrmals Sturm - und das war's dann auch. Der Text stellt Meyer hier eher als einen suizidalen Charakter dar denn als jemanden, der konkret von Deportationen in Vernichtungslager bedroht ist. Meyer ist bei Fest jemand, der sich zum Entsetzen der Fests aus eigener Entscheidung heraus aufgegeben habe und dem daher am Ende auch nicht mehr zu helfen gewesen sei.

Die "Reichskristallnacht" vom 9. November 1938 wird in diesen blass und verdruckst bleibenden Beschreibungen dunkler Jahre natürlich von anonymen "Machthabern" "veranstaltet", die damit "nach soviel Maskerade aller Welt wieder ihr wahres Gesicht" zeigten - ganz so, als sei die normale Bevölkerung von diesen Ereignissen vollkommen überrascht worden und habe sie selbst unbeteiligt 'erlebt'. Überhaupt liest man hier merkwürdig wenig Anschauliches über solche Ereignisse, über die man noch in alten Schulgeschichtsbüchern mehr erfahren kann als bei Fest.

Großdeutsch kontaminiertes Denken

Vater Fest wird uns in dem Buch als zerrissener Charakter vorgestellt - und damit als gar nicht so untypischer Zeitgenosse, ganz anders als uns so mancher Rezensent dieser Tage glauben machen will. Joachim Fest schreibt, sein Vater habe "wie Katholiken überhaupt und die überwältigende Mehrheit der Deutschen und der Österreicher, in großdeutschen Vorstellungen" gedacht. Der "Anschluss" Österreichs im März 1938 beschert ihm denn auch verzweifelte Grübeleien - nicht etwa, weil er ihn als Bestätigung seiner NS-renitenten Haltung gesehen hätte, sondern, weil er ihn in Zweifel stürzte: "Warum gelingt Hitler fast alles?" Johannes Fest gehörte mithin zu jenen ehemaligen Frontkämpfern des Ersten Weltkriegs, die in der 'Schmach von Versailles' einen der Gründe des Scheiterns der Weimarer Republik sahen: "Die jedenfalls hätte überdauert, wenn ihr ein Erfolg von der Art des 'Anschlusses' vergönnt gewesen wäre", referiert der Autor den haarsträubenden Standpunkt seines Vaters.

Das geht dann so weiter: "Im Morgengrauen des 10. Mai 1940 begann die [...] Offensive gegen Frankreich. Anders als im Ersten Weltkrieg war die Auseinandersetzung schon nach wenigen Wochen entschieden, und mein Vater geriet neuerdings in den Konflikt der letzten Jahre" - er habe "den Franzosen die Niederlage von Herzen" gegönnt, "doch Hitler nie und nimmer den Triumph."

Man fasst sich angesichts solcher offensichtlicher revanchistischer Kontaminierungen im Weltbild Johannes Fests an den Kopf. Nach dem Krieg soll er laut der Erinnerungen seines Sohns sogar geäußert haben, die Leichen, die seine Familie nicht im Keller gehabt hätte, würden nun "von den Russen hergestellt und uns auf die Rechnung geschrieben". Gleichzeitig habe Johannes Fest die "Tribunalisierung" der Hitler-Zeit und die amerikanischen Fragebögen mit ihren 131 verlangten Auskünften über die NS-Karriere der Befragten als "schrecklich" empfunden: Das Leben habe eben Gründe, "die kein Gericht der Welt begreife".

"Das sind die Fests" (Matussek). Immerhin: Dass man Hitler seine 'Wahrheiten' so wenig habe glauben können, "dass nicht einmal das Gegenteil davon wahr ist", wie die im Buch auftauchende Figur des "ollen Katt" betont, wird oftmals unterstrichen. Aber genau deswegen fragt man sich ja beim Lesen unablässig wie auch Robert Leicht in der "Zeit": "Wenn jemand so wie Joachim Fest schon von Kindesbeinen an über die Lügen und Verbrechensgelüste der Nazis aufgeklärt wurde, wie konnte er dann [...] einem Albert Speer und dessen Schwindeleien aufsitzen, wie konnte er einem Ernst Nolte das Manuskript zum Druck in der FAZ abnehmen, das gegen allen Augenschein der Welt einreden wollte, Hitler habe seine Verbrechen nur als angstvolle Reaktion auf Stalins Untaten begangen? Irgendwie fällt da einiges trotz dieser lupenreinen Erziehungsgeschichte ins Unklare - gegen Ende auch im Buche."

Es sind die altbackenen, von Millionen seiner Generation vorgebrachten Selbstentschuldungsphrasen, die sich Fest auch hier nicht scheut, uns abermals in langatmigem Pathos aufzutischen: "Sicher war, daß nur eine Minderheit den Krieg gewollt oder in Weißrußland bis hin zum Ural hatte siedeln wollen, und keiner war darauf ausgewesen, die Höhen des Kaukasus gegen muslimische Bergvölker zu verteidigen", behauptet er. "Auch der Köhlerglauben von der nordischen Rasse hatte verschwindend wenige Befürworter gehabt." Man fragt sich angesichts solcher Merksätze allerdings schon, wie es diese 'Wenigen' dann wohl fertiggebracht haben mochten, im Osten sechs Millionen Juden, eine Million Sinti und Roma und 20 Millionen Sowjetbürger umzubringen sowie endlose Weiten verbrannter Erde zu hinterlassen.

Bürgerliche Illusionen

Fest sieht in seiner vom Vater geprägten Familie "ein Gegenbild zu der von antibürgerlichen Affekten geprägten Welt des Regimes, und heute, im Abstand der Jahre, stellt sie sich mir vor allem als eine Art bürgerlicher Entwicklungsgeschichte in unbürgerlicher Zeit dar": "Aufs Ganze war, was ich erlebt habe, der Einsturz der bürgerlichen Welt." Historisch ist eine solche schönfärberische Konstruktion eines 'anderen Deutschland', eines tapferen Intellektualismus in der 'inneren Emigration' längst überholt. Das Phantasma eines ausnahmslos auf "Anstand", "Manieren" und "Rücksicht" pochenden Bürgertums, das standhaft blieb, während draußen die NS-Diktatur von einigen ungehobelten Proleten im Alleingang organisiert worden sei, kann uns auch das Bild von Fests Vater nicht wiederbringen. Dagegen malt Fest allen Ernstes auch noch die von Gershom Scholem zu Recht in Abrede gestellte Schimäre einer "deutsch-jüdischen Symbiose" zurück an die Wand: "Nicht ganz ohne Grund kann man daher den Judenhaß der Deutschen und sein Vernichtungswerk als eine Art Brudermord deuten, auch wenn man sich bewußt ist, wie unendlich vieles dagegen spricht." Das genau sind die rhetorischen Taschenspielertricks, die dieses Buch in seinem resümierenden Passagen immer wieder bestimmen: Die Deutschen haben sich in Auschwitz im Grunde selbst umgebracht, sagt Fest, um dann einzuräumen, es spreche "unendlich vieles dagegen". Was denn nun?

Und dann, last but not least, steht da ja auch noch die Geschichte mit der freiwilligen Meldung des blutjungen Joachim Fest zur Luftwaffe zu lesen, die zu einem langjährigen Konflikt mit diesem Vater führte: "Ich sagte, er müsse es aber verstehen, fast die gesamte Klasse habe sich gemeldet [...]. Er verneinte aufs neue, und am Ende [...] entfuhr es mir: die Meldung als Freiwilliger biete den einzigen Weg, nicht zur SS eingezogen zu werden, deren Werber kürzlich in der Klasse gewesen seien."

Ach so! So weit ist es eben bei Joachim Fest dann doch nicht her gewesen mit dem mystifizierenden - und ohnehin nur vom Vater geborgten - "Etiam si omnes - ego non!" Es mussten also bloß ein paar Anwerber im Klassenzimmer auftauchen, und schon war es beim heranwachsenden Joachim aus mit der Verweigerung mitzumachen? So steht es da. Man muss es nur nachlesen. Und nicht immer alles glauben, was andere Claqueure schreiben.


Titelbild

Joachim Fest: Ich nicht. Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2006.
365 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3498053051

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch