Wie man mit Gefühlen Politik macht

In ihrem Buch „Undemokratische Emotionen“ erklärt Eva Illouz Hintergründe der heutigen israelischen Politik

Von Günter RinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Rinke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Warum in aller Welt wird Israel Benjamin Netanjahu nicht los? Wer nach dem Buch der israelischen Soziologin Eva Illouz greift, wird vielleicht eine Antwort vor allem auf diese Frage suchen. Netanjahu führt inzwischen die sechste Regierung und ist bereits der am längsten amtierende Regierungschef des Landes. Als sein Vorgänger Jair Lapid die Regierungsgeschäfte übernahm, glaubte man, damit sei die Ära Netanjahu endgültig Geschichte, aber das erwies sich als Irrtum. Es gelang ihm, eine höchst problematische Regierung zusammenzustellen, die ihm jetzt das Leben schwermacht, wie beispielhaft die Kontroverse um den neuen, für die orthodoxen Juden sehr vorteilhaften Haushalt beweist. Die nächste Frage ist, ob Netanjahu noch irgendetwas Gutes für sein Land bewirkt. Dass er es spaltet, zeigen die Demonstrationen Hunderttausender, die ihn – vorläufig – zu einer Verschiebung seiner geplanten Justizreform bewegt haben.

Eva Illouz lehrt an der Hebräischen Universität in Jerusalem und in Paris an einer Hochschule für Sozialwissenschaften. Damit verfügt sie über den Blick sowohl von innen als auch von außen auf die Verhältnisse in Israel. Ihr Buch hat einen Doppelcharakter. Das zeigt sich schon daran, dass der Titel Undemokratische Emotionen, der allein auf dem Buchumschlag erscheint, auf eine politikwissenschaftliche Studie von allgemeinem Charakter hinzuweisen scheint, während der im Inneren zu findende Untertitel Das Beispiel Israel darauf hindeutet, dass es sich um eine Fallstudie handelt. Beides trifft zu. Aufgrund verschiedener Faktoren ist Israel ein Sonderfall, aber andererseits sind manche Entwicklungen, die dort zu beobachten sind, auch für andere Länder prägend. So weist Illouz immer wieder auf Vergleichspunkte zwischen Netanjahu, Trump, Erdogan und Viktor Orbán hin.

Illouzʼ zentrale These lautet, dass mit Gefühlen Politik gemacht werden kann und dass diese Gefühle nicht so wandelbar und flüchtig sind, wie man auf den ersten Blick meinen mag, sondern dass es relativ stabile Gefühlsstrukturen gibt. In Anlehnung an den britischen Kulturtheoretiker Raymond Williams definiert Illouz eine Gefühlsstruktur als

eine rudimentäre, noch unausgereifte Erfahrung, etwas, das wir heute vielleicht als Affekt bezeichnen würden und das sich unterhalb der Ebene kohärenter Bedeutungen abspielt. Es handelt sich um eine geteilte Weise des Denkens und Fühlens, die die Kultur und Lebensform einer bestimmten Gruppe beeinflusst und von ihr beeinflusst wird.

Wenn Illouz bei der Beschreibung politischer Prozesse in Israel von „Emotionen“ spricht, so meint sie eigentlich mehr, nämlich besagte Gefühlsstrukturen. Der Populismus in Israel und in anderen Ländern bediene sich vor allem folgender vier Emotionen: Angst, Abscheu, Ressentiment und Liebe zum eigenen Land. Diese Emotionen strukturieren den vier Kapitel umfassenden Hauptteil des Bandes. Nacheinander wird in jedem Kapitel jeweils eine von ihnen zum erkenntnisleitenden Aspekt gemacht. Die Untersuchung reicht von der Gründung des Staates Israel bis in die unmittelbare Gegenwart und stützt sich nicht nur auf schriftliche Quellen und wissenschaftliche Texte, sondern auch auf umfangreiche Interviews mit israelischen Bürgerinnen und Bürgern, die wörtlich wiedergegeben werden.

Interessant ist, in welchem Verhältnis Gefühlsstrukturen zu Erkenntnissen stehen, die aus Analysen gewonnen werden. Illouz zitiert in der Einleitung zu ihrem Buch eine Aussage Theodor W. Adornos, nach der Angehörige deklassierter oder von Deklassierung bedrohter Klassen ihre Abneigung nicht etwa auf das sie bedrohende System und seine Vertreter richten, sondern auf die diejenigen, die dieses System kritisieren. Sie wählten also nicht Politiker, die ihre ökonomischen und sozialen Interessen vertreten, sondern solche, die diesen Interessen oft zuwiderhandeln, dafür aber ihre Gefühle bedienen. Ein kürzlich unter dem Titel „Stolz und Vorurteil“ in der Wochenzeitung DIE ZEIT erschienener Artikel setzt sich mit demselben Phänomen auseinander, nämlich damit, dass Bill Clintons Spruch „Itʼs the economy, stupid“ heute in vielen Fällen nicht mehr gilt. Gewählt werden Männer, in einigen Fällen auch Frauen, denen es gelingt, die Gefühle ihrer Klientel entweder zu bedienen oder diese anzustacheln, oftmals auch beides.

Die besondere Geschichte, geografische Lage und politische Situation Israels bieten nach Illouz einen fruchtbaren Nährboden für populistische Politik mit der Angst. Der Zionismus war unter anderem eine Reaktion auf den Antisemitismus, der im Holocaust gipfelte, zum anderen hatte er sich mit der Ablehnung jüdischer Einwanderung durch die ansässige arabische Bevölkerung auseinanderzusetzen. Beides verschmolz zu einem Gefühl allgemeinen Bedrohtseins, das vor allem durch die Likud-Partei als politisches Kapital genutzt wurde. Schon Netanjahus Vorgänger hätten mit der Formel „Araber = Schoah“ Politik gemacht. Die über lange Zeit bestehende Bedrohung von außen durch die umliegenden arabischen Staaten und durch Palästinenser habe man dann verschmolzen mit einer angeblichen Bedrohung von innen durch Linke. Um die Angst zu bekämpfen, habe man einen gewaltigen, perfektionierten Sicherheitsapparat aufgebaut, allerdings mit der Nebenfolge, dass dieser wiederum Angst erzeuge, insbesondere bei den israelischen Arabern.

Das zweite und dritte Gefühl, Abscheu und Ressentiment, haben ähnliche Auswirkungen. Statt zur Versöhnung innerhalb der Gesellschaft tragen sie zu deren Spaltung bei. Solche Spaltungstendenzen lassen sich in vielen Staaten beobachten, insbesondere in den USA oder jüngst anlässlich der Wahlen in der Türkei. Hinter der Abscheu als „Angst vor Vermischung“ sieht Illouz „die Logik des Rassismus“. Um die besondere Anfälligkeit von Teilen der israelischen Gesellschaft dafür zu belegen, führt sie Beispiele von religiösen Vorschriften und Riten an, die mit dem Ekel (zum Beispiel vor bestimmten Speisen) begründet werden. Unter den Bedingungen der Besatzung führe Abscheu zur strikten Trennung zwischen Juden und Arabern.

Ressentiments wiederum ließen sich in Israel wegen der traditionellen Rivalität zwischen (aus Ost- und Westeuropa eingewanderten ) Ashkenasen und (aus Afrika und Asien eingewanderten) Mizrachim leicht schüren. Letztere, so Illouz, fühlten sich traditionell benachteiligt und folgten solchen Politikern, die ihnen versprechen, sie aus ihrer als misslich wahrgenommenen Lage zu befreien. Die Politik des Ressentiments, so der Befund, prangere reale Diskriminierung und ökonomische Ungleichheit an, bekämpfe sie aber nicht durch wirtschafts- und steuerpolitische Maßnahmen (eher im Gegenteil!), sondern erziele Erfolge durch das Wachhalten von Ressentiments. Obwohl in Israel schon seit Längerem keine linken Parteien mehr regierten, sondern Rechte (Likud, Schas) die Politik bestimmten, sei es diesen gelungen, einen „Opferdiskurs“ wachzuhalten und damit Stimmen zu gewinnen.

Dieser Diskurs funktioniert noch besser, wenn Parteiführer sich selbst ebenfalls als Opfer darstellen können und damit eine Identifikation mit Benachteiligten der Gesellschaft erzeugen, zu denen sie keineswegs gehören. Dass gegen Netanjahu und Trump Strafverfahren eingeleitet wurden, gereicht ihnen bei ihrer Wählerschaft nicht etwa zum Nachteil, sondern erweist sich in Wahlkämpfen für sie als vorteilhaft, weil sie sich als ungerecht verfolgte Opfer stilisieren können. Ihre Erzählung, linke Eliten wollten mit Hilfe der Justiz ihre Gegner schwächen oder gar ausschalten, kommt an. Der „Haupteffekt“ der Politik des Ressentiments besteht nach Illouz darin, „dass die Enteigneten ihre Wunden wiederkäuen und nach Rache verlangen, statt sich zusammen mit anderen Gruppen auf eine Veränderung der herrschenden Zustände zu konzentrieren.“

Komplettiert wird diese politische Strategie durch ein Anheizen des Patriotismus hin zu einem übersteigerten Nationalismus. Ein Spezifikum Israels besteht nun darin, dass zunehmend die jüdische mit der israelischen Identität gleichgesetzt wurde. Damit werden israelischen Araber aus der Nation ausgeschlossen. Es gibt sogar ein Nationalstaatsgesetz (2018), „das den ethnischen Vorrang der Juden in Israel festschrieb“. Auf die Karte eines ethnisch gegründeten Nationalismus setzen auch andere populistische Führungsfiguren wie Orbán in Ungarn, Kaczyński in Polen, Modi in Indien und Trump in den USA. Mit ihnen pflegt Netanjahu gute Beziehungen und verschreckt damit das liberale Judentum in aller Welt.

Illouz ergänzt diese in vieler Hinsicht aufschlussreiche und gut lesbare Analyse durch einen Epilog, in dem sie den „undemokratischen Gefühlen“ die „Gefühle einer anständigen Gesellschaft“ gegenüberstellt. Diese sind nach ihrer Vorstellung Brüderlichkeit und Universalismus. Die Brüderlichkeit sei schon in der Französischen Revolution gegenüber Freiheit und Gleichheit zu kurz gekommen. Sie sei umfassender und selbstloser als die Solidarität und sie gründe in einer universalistischen Auffassung vom Menschen. Angesichts dessen, was die Autorin zuvor beschrieben hat, kann der Epilog nur als Entwurf einer Utopie gelesen werden, die sich bei Weitem nicht nur auf Israel erstreckt.

Titelbild

Eva Illouz: Undemokratische Emotionen. Das Beispiel Israel.
Aus dem Englischen von Michael Adrian.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023.
250 Seiten , 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518127803

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