Im Zwielicht: Untersuchungen und Dokumente zur Lebensgeschichte des prominenten Germanisten Wilhelm Emrich vor, in und nach der NS-Zeit

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Reihe „Beiträge zur Geschichte der Germanistik“ widmen sich zwei neu erschienene Bände dem vor vierzig Jahren an der Freien Universität Berlin emeritierten und vor zwanzig Jahren gestorbenen Literaturwissenschaftler Wilhelm Emrich. Als renommierter Vertreter seines Fachs, der um 1968 auch in der Studentenbewegung ein beliebter Wissenschaftler war (Gudrun Ensslin beispielsweise wollte bei ihm promovieren), hatte er nachhaltigen Einfluss auf mehrere Generationen von Germanisten. 1958 veröffentlichte Emrich, der vor 1933 in Frankfurt u.a. bei Adorno studiert hatte, eine viel beachtete Monographie über Franz Kafka. Zu seinen politisch engagierten Schülern gehörten der Verleger Klaus Wagenbach und der Literaturwissenschaftler Gert Mattenklott, der 1998 in seinem Nachruf auf den Lehrer schrieb: „Die Ansteckungskraft, mit der er lehrte, sein Enthusiasmus im Rühmen, sein Hohn im Verwerfen wirkten herausfordernd.“

Zwei Jahre vor Emrichs Tod sorgte ein „Schüsselroman“ seines Freundes Kurt Mautz, „Der Urfreund“, mit Enthüllungen über die Karriere Emrichs im nationalsozialistischen Deutschland für erhebliche Irritationen. Sein „Fall“ gleicht dem der Literaturwissenschaftler Hans Schwerte und Hans Robert Jauß, die aufgrund ihrer ebenfalls bis in die neunziger Jahre hinein verschwiegenen und öffentlich kaum bekannten Verstrickungen in die NS-Politik und -Ideologie zu einer Herausforderung für das wissenschaftsgeschichtliche Selbstverständnis philologischer Fächer wurde. „Wilhelm Emrich im Zwielicht“ lautet denn auch der Titel der Einleitung zum ersten Band von Jörg Schönert, neben Ralf Klausnitzer und Wilhelm Schernus einer der drei Herausgeber beider Bände, der die meisten Beträge verfasst hat.

Auf Grundlage umfassender archivalischer Recherchen, insbesondere für den Nachlass Emrichs am Deutschen Literaturarchiv Marbach, untersuchen und dokumentieren die Beiträge seinen wissenschaftlichen Werdegang unter den Bedingungen wechselnder politischer Systeme – von der Weimarer Republik über die Zeit des Nationalsozialismus bis in die Bundesrepublik. Der erste Band befasst sich mit Emrichs Studium und Promotion an der Universität Frankfurt am Main, seiner Tätigkeit als Lektor für die Deutsche Akademie auf dem Balkan und als Referent in der „Schrifttumsabteilung“ von Goebbels‘ Propagandaministerium, mit seiner Habilitation 1944 an der Berliner Universität sowie seiner Tätigkeit als Lehrer und Erzieher an der Hermann Lietz-Schule Buchenau bis zum Ende des Krieges. Der zweite Band untersucht Emrichs Entnazifizierung und seine Vergangenheitspolitik im Hinblick auf die NS-Zeit. Sie ermöglichte seine erfolgreiche akademische Laufbahn. Ergänzend werden Emrichs Korrespondenzen mit Oskar Seidlin und Alfred von Martin aus den Nachkriegsjahren ediert und kommentiert.

Am Ende der Bände, in einem „Epilog“, gehen Jörg Schönert und Wilhelm Schernus auf die Beziehung zwischen den „Urfreunden“ Wilhelm Emrich und Kurt Mautz ein. Denn vor allem dessen Roman prägte bislang das Bild von Wilhelm Emrich für den Zeitraum von 1929 bis 1959. Dieser Phase seiner Biographie (im zeitgeschichtlichen Zusammenhang) widmete sich seit 2012 das wissenschaftsgeschichtliche Forschungsprojekt der Herausgeber, aus dem die beiden Bände unter Mitwirkung von weiteren Experten hervorgegangen sind.

T.A.

Anmerkung der Redaktion: literaturkritik.de rezensiert nicht die Bücher von Mitarbeitern der Zeitschrift, Angehörigen der eigenen Universität oder aus dem Verlag LiteraturWissenschaft.de. Diese Bücher können hier jedoch gesondert vorgestellt werden. Teile der erwähnte Einleitung von Jörg Schönert veröffentlichen wir hier: https://literaturkritik.de/id,25027.html.

Titelbild

Jörg Schönert / Ralf Klausnitzer / Wilhelm Schernus (Hg.): Wilhelm Emrich. Zur Lebensgeschichte eines Geisteswissenschaftlers vor, in und nach der NS-Zeit. 1929–1945: Der Werdegang eines „Geistigen“ im Einflussspektrum akademischer, beruflicher und politischer Institutionen.
(Beiträge zur Geschichte der Germanistik, Band 9).
Hirzel Verlag, Stuttgart 2018.
322 Seiten, 56,00 EUR.
ISBN-13: 9783777626550

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Jörg Schönert / Ralf Klausnitzer / Wilhelm Schernus (Hg.): Wilhelm Emrich. Zur Lebensgeschichte eines Geisteswissenschaftlers vor, in und nach der NS-Zeit. 1945–1959 Wilhelm Emrichs Modellierungen seiner akademischen Existenz.
(Beiträge zur Geschichte der Germanistik, Band 10).
Hirzel Verlag, Stuttgart 2018.
337 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783777626567

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch