Leiser Feminismus

Yael Inokai erzählt in ihrem Roman „Ein simpler Eingriff“ mit poetischer Kraft aus dem Leben einer jungen Krankenschwester

Von Michael FasselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Fassel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die junge Meret widmet sich hingebungsvoll ihrer Arbeit als Krankenschwester in einer psychiatrischen Klinik. Ihr Selbstbewusstsein wird bereits in den ersten Sätzen fassbar: „Ich sehe mich wieder als junge Frau im Spiegel. Da ist Überzeugung in meinem Blick. Ungetrübt von Zweifeln. Ich bin Mitte zwanzig, und ich habe die Welt verstanden.“ Ein gewisser Hang zur Überheblichkeit ist der Ich-Erzählerin eigen. Doch darauf lässt sie sich nicht reduzieren, denn die Schweizer Schriftstellerin Yael Inokai schafft in ihrem dritten Roman Ein simpler Eingriff eine komplexe Hauptfigur mit facettenreichem Charakter.

Meret arbeitet in einer Klinik, in der Menschen mittels eines einfachen chirurgischen Eingriffs bei Bewusstsein am offenen Schädel operiert werden. Es handelt sich dabei um ein Verfahren, das psychisches Leiden beseitigen und ein „normales“ Leben ermöglichen soll. Die Krankenschwester hat das Talent – man könnte es beinahe eine Gabe nennen – mit den Patientinnen zu sprechen, sie während und nach der Behandlung einfühlsam zu betreuen. Der Patientin Marianne, die nach einem Eingriff für eine Weile in einen komatösen Zustand fällt, fühlt sich Meret in den Gesprächen und beim gemeinsamen Kartenspielen auf besondere Weise verbunden. Diese Begegnungen ermöglichen ihr, spontan zu reagieren und aus ihrem routinierten Berufsalltag auszubrechen.

Selbst das zunächst trostlos wirkende Schwesternwohnheim wird zum Ort einer sensibel erzählten Liebesgeschichte. Meret teilt sich mit ihrer Kollegin Sarah ein Zimmer und schon bald kommt es zwischen den beiden zu ersten Annäherungen. Die sorgfältig geschilderten Beobachtungen Merets, wenn sie von Sarah schwärmt, überzeugen: „Ich hielt kurz die Luft an. Ich wollte nicht die Wolken meines gefrorenen Atems sehen. Ich wollte diese Haare anschauen, und wie der Schnee sie langsam zu einer Landschaft machte.“

Dem routinierten Krankenhausalltag entkommt Meret auch, wenn sie ihre Familie besucht. Für diese Anlässe legt sie ihre Schwesternuniform ab und zieht ein bestimmtes Kleid an. „Ich trug ein Kleid. Das Kleid, das ich immer trug, wenn ich nachhause fuhr. Ich war eine Tochter darin.“ Klare Rollen sind Meret ebenso wichtig wie ein strukturierter Tagesablauf. Zu Hause hat sie sich einst mit ihren Geschwistern dem tyrannischen Vater unterordnen müssen, auch mit der hierarchischen Reglementierung in der Klinik geht sie konform. Dabei ist auffällig, wie schemenhaft die Ärzte und vor allem die älteren Schwestern dargestellt werden. Und in dieses Umfeld setzt Inokai eine Protagonistin, die ihr Leben zufrieden verbringt, heimlich ihre gleichgeschlechtliche Liebe lebt und nicht zuletzt den vielversprechenden „simplen Eingriff“ immer mehr kritisch hinterfragt.

Dargestellt wird eine Art „Feminismus im Stillen“, indem Meret etwa nicht offen rebelliert, sondern eher verschwiegen ihren eigenen Weg beschreitet. Dabei wird die Frage interessant, zu welcher Zeit die Romanhandlung spielt: Es bleibt unklar, ob Ein simpler Eingriff in der Gegenwart, in einer dystopischen Zukunft oder „futuristischen Vergangenheit“ spielt, weshalb der Roman Marie Schmidt (Die Süddeutsche) an Margaret Atwoods The Handmaid’s Tale erinnert. Doch geht es bei Inokai nicht in erster Linie um Repressalien und die Schilderung eines Regimes oder gar den Aufbau eines Feindbildes. Vielmehr geht es um Individualität, die sich Meret als Mensch stets würdevoll bewahrt. Unaufgeregt und mit poetisch kraftvollen literarischen Bildern gelingt der Autorin ein überzeugendes Porträt einer jungen Krankenschwester.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Yael Inokai: Ein simpler Eingriff. Roman.
Hanser Berlin, Berlin 2022.
192 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783446272316

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