Auf dunklen Pfaden

In Friedrich Anis Roman „Lichtjahre im Dunkel“ hat auch dessen legendärer Vermisstensucher Tabor Süden wieder einen – wenn auch nur kurzen –Auftritt

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Leo Ahorn ist verschwunden. Eine jener „Vermissungen“, für die Friedrich Anis legendäre Romanfigur Tabor Süden von jeher ein Händchen hat – erst als Polizist, danach als Angestellter der Münchener Detektei von Edith Liebergesell. Die schickt ihn auch diesmal los, als Ahorns Frau Viola sie um Hilfe bittet. Und Süden sucht, wie er das schon immer getan hat, jene Orte auf, an denen der Besitzer eines kleinen, von seinen verstorbenen Eltern geerbten und seit Jahren mehr schlecht als recht gehenden Schreibwarengeschäfts im Münchner Osten als der auftrat, der er – hinter allen beruflichen und privaten Masken – in Wirklichkeit war.

Und wieder begegnet Süden einer jener verlorenen Existenzen, in die er sich auch deshalb so gut einfühlen kann, weil er selbst – in dessen Gedanken immer noch jener Kollege herumspukt, dessen Suizid ihn einst tief erschüttert hat – sich im Grunde zu ihnen zählt. Allein diesmal führen alle Spuren ins Leere. Und als eine gute Freundin Viola Ahorn davon überzeugt, sich schließlich doch noch an die Polizei zu wenden, wird auch schnell klar, warum Süden den Vermissten nicht ausfindig machen konnte: Leo Ahorn ist tot, Opfer eines Gewaltverbrechens, seine Leiche brutal in den Kofferraum des Luxuswagens eines bekannten Münchener Zuhälters gestopft.

Aber was hat der eher scheue Leo mit dem zur Halbwelt gehörenden Roger Braun zu tun? Und welchen Grund sollte der Mann haben, der von sich behauptet, längst nicht mehr im Geschäft zu sein, einen kleinen Geschäftsmann, dem die Zeiten gerade übel mitspielen, nachts auf offener Straße zu erstechen, um ihn anschließend in seiner Limousine herumzukutschieren?

Lichtjahre im Dunkel führt seine Leserinnen und Leser auf vertrautes Terrain und zu Figuren, wie sie den Romankosmos Friedrich Anis von jeher bevölkern. Es sind gescheiterte Existenzen, die in der Anonymität der Großstadt, einer „Welt ohne Nähe“, wie es an einer Stelle heißt, irgendwie zu überleben versuchen, verzweifelt und desillusioniert, weil sie „von einem bestimmten Moment ihrer Geschichte an um ein ihnen angemessenes Dasein betrogen worden waren“.

Anis Roman erzählt wie die meisten seiner Vorgänger von geplatzten Lebensträumen und schmuddeligen Eckkneipen als Fluchtpunkten für all jene, die einsam sind, selbst wenn sie zusammen mit einem Partner oder einer Partnerin leben, und irgendwann den Punkt erreichen, an dem sie nicht mehr umhinkönnen, „sang- und klanglos von der gewohnten Bildfläche zu verschwinden“. Immer wieder stieß man in den Roman- und Filmwelten des 1959 geborenen Münchner Schriftstellers und Drehbuch-Autors bisher auf gleiche oder ähnliche Konstellationen, wußte aber auch, dass sich mit Tabor Süden meist ein Mann auf die Suche nach den Vermissten begab der sich auskannte auf den dunklen Wegen und jenen ins Herz zu schauen vermochte, die es hierher verschlagen hatte.

Allein der 48-jährige Leo Ahorn war beileibe noch nicht am Tiefpunkt seiner Existenz angekommen. Er hatte Wirtschaftskrise und Pandemie irgendwie überlebt, sogar einen Menschen gefunden, mit dem er sich gelegentlich austauschen konnte, was ihm mit einer ihm gegenüber immer gleichgültiger werdenden Frau voller Zukunftsängste an der Seite schon lange nicht mehr gelang. Bis er auf dem letzten seiner vielen nächtlichen Gänge vom „Blauen Eck“ nach Hause seinem Mörder begegnete, hegte er noch Hoffnung. Trug sich mit Plänen, aus seinem schlecht gehenden Schreibwarengeschäft, das in letzter Zeit nur noch als Paketabholstation diente, einen Ort zu machen, an dem man sich mit Seinesgleichen treffen, reden, sich die Sorgen von der Seele quatschen und auf das Verständnis der anderen hoffen konnte. Aber woher das Geld nehmen, um diesen Traum in Realität zu verwandeln, wen um Hilfe bitten, wem sich anvertrauen in der Hoffnung, gehört, verstanden und solidarisch unterstützt zu werden?

Ahorn hoffte darauf, in dem in seiner Nachbarschaft wohnenden Georg Kramer, einem Ex-Umzugsunternehmer, der seine Firma eines Tages verkauft hatte und seither im Ruf stand, vermögend zu sein, einen solchen Menschen zu finden. Zu ihm setzte er sich Abend für Abend im gemeinsamen Stammlokal. Von ihm erhoffte er sich Hilfe und vor allem finanzielle Unterstützung. Doch Kramer verweigerte sie ihm ein ums andere Mal. Bis auf jenen verhängnisvollen Tag, in dem beide kurz nacheinander nach einem immer lauter gewordenen Streit das „Blaue Eck“ verließen und Leo Ahorn in dieser Nacht nicht mehr nach Hause zurückkehrte.

Als eine Woche später seine Leiche unvermutet wieder auftaucht, ist es Oberkommissarin Fariza Nasri, die die Mordermittlung mit ihrem Team übernimmt. Auch ihr konnte man in Friedrich Anis Büchern bereits begegnen. Und auch sie ist ein Mensch mit Problemen, über die ihr die Arbeit nicht immer hinweghilft, eine typische Figur dieses Autors eben, auf der Seite jener angesiedelt, deren Job in der Aufrechterhaltung der Ordnung besteht, in ihrem Inneren aber eher zu den anderen gehörend, jenen, die suchen, aber nur selten finden. Die Tatsache, dass sie gemeinsam mit ihrem Team den Fall des ermordeten Leo Ahorn schließlich löst, scheint so selbstverständlich, dass der Roman sie fast auf eine erzählerische Nebenstrecke abschieben kann. Denn nie geht es bei Friedrich Ani um die schlichten Tätersuchen, wie sie traditionelle Kriminalromane in der Regel präsentieren. Im Gegenteil: Hier lotet einer mit den Mitteln des Kriminalromans die Untiefen unserer Welt und Gesellschaft aus. Tief lässt er sein literarisches Senkblei hinab – allein einen Grund findet er nicht.

Es ist tatsächlich ein „ewige[r] Kreislauf der verbeulten Seelen“, in den der Autor seine Leserinnen und Leser einlädt. Es dauert seine Zeit, ehe man die zahlreichen Verbindungen zwischen den einzelnen Figuren versteht, begreift, warum die Leiche Theo Ahorns ausgerechnet im Kofferraum einer ehemaligen Halbweltgröße gelandet ist und was der Halbbruder Georg Kramers mit der ganzen Sache zu tun hat. Und Ani kommt seinen Leserinnen und Lesern mit der Komposition seines fast 450 Seiten umfassenden Romans auch nicht wirklich entgegen, deckt erst allmählich Zusammenhänge auf, wechselt die Perspektiven, lässt Figuren fallen, führt andere – wie den eben erwähnten Halbbruder Georg Kramers, den Berliner Zahntechniker Sandro Fels – ein. Beide Männer teilen das gleiche Schicksal: von der Mutter verlassen in einem Alter, in dem sie sie am dringendsten gebraucht hätten, mussten sie fortan in einer Welt zurechtkommen, die unsichere, suchende Menschen wie sie gnadenlos aussortiert.

Viele von Anis Figuren gehören „längst zu den Untoten, die durch einen verrotteten Alltag geisterten, im aberwitzigen Glauben, sie sicherten so ihr Überleben in einer Welt aus Geiz und Ungeduld, hinterhältiger Konkurrenz und Egoismus hoch tausend.“ Sie leben in einem „Universum aus verbrauchter Luft und zerknüllten Träumen“, wobei der Ausdruck „leben“ die Art und Weise, wie die irdische Zeit dieser Verlorenen, Aufgegebenen und Sich-Aufgebenden verstreicht, kaum mehr trifft. In Lichtjahre im Dunkel hat der Münchener Autor unterschiedlichste Ausprägungen dieses Lebens auf der Kippe in einen Roman gepackt. Was alle Protagonisten unabhängig von ihrem Geschlecht oder ihrer sozialen Stellung freilich eint, ist ihre existentielle Verlassenheit, die Gewissheit, dass keine Hand mehr für sie existiert, nach der sie greifen, an der sie sich festhalten könnten. Lichtjahre im Dunkel ist große Literatur, aber nur schwer zu ertragen.

Titelbild

Friedrich Ani: Lichtjahre im Dunkel.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024.
450 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783518431566

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