Eine Frau in der Fremde
In „Nostalgia“ erinnert sich André Kubiczek an die 1970er und 1980er Jahre in der DDR und an seine laotische Mutter
Von Dietmar Jacobsen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDass sich sein Aussehen ein wenig von dem seiner Klassenkameraden unterscheidet, ist André, dem autobiographisch geprägten Helden von André Kubiczeks elften Roman, durchaus bewusst. Und die Blicke, die man ihm und seiner Mutter hinterherschickt, wenn er mit ihr zusammen durch seine Heimatstadt Potsdam läuft, sprechen ebenfalls eine deutliche Sprache. So richtig scheinen sie nicht dazuzugehören. Auch wenn die aus Laos stammende Frau ein besseres Deutsch spricht als viele von denen, die sie auf der Straße beargwöhnen, und ihr dreizehnjähriger Sohn, aus dessen Perspektive die ersten Kapitel des Romans geschrieben sind, in der Regel ganz andere Probleme hat, als sich mit seinem Spiegelbild auseinanderzusetzen und der Frage nachzusinnen, warum man ihm und der Mutter ihr Fremdsein auf den ersten Blick ansieht und seinem Schulfreund Michael, dessen Mutter Russin – „das heißt Bürgerin der Sowjetunion“ – ist, nicht.
Wer die Romane des 1969 in Potsdam geborenen André Kubiczek seit seinem erfolgreichen Debüt Junge Talente (2002) verfolgt hat, weiß, dass Autobiographisches von Anfang an eine große Rolle in seinem Schreiben gespielt hat. Auch seine Eltern – ein ostdeutscher Staaatswissenschaftler und dessen laotische, aus einer hoch angesehenen Familie des südostasiatischen Landes stammende Ehefrau, die sich beim Studium in Moskau kennen und lieben gelernt hatten – standen bereits einmal im Mittelpunkt eines Buches, des 2012 erschienenen Romans Der Genosse, die Prinzessin und ihr lieber Herr Sohn nämlich.
Den damaligen Ansatz eines nichtchronologischen Erzählens übernimmt Kubiczek nun auch in Nostalgia. Der Roman setzt ein im Jahr 1981. Da ist André, aus dessen Perspektive die ersten beiden Teile erzählt werden, 13 Jahre alt. Der dritte Teil macht dann einen kleinen zeitlichen Sprung in die Jahre 1985 und 1986 und präsentiert in seinem letzten Kapitel zum ersten Mal eine zweite Erzählstimme, die der Mutter nämlich. Mit Teil 4 geht es dann wieder zurück in die siebziger Jahre, ehe Teil 5 aus der Sicht der Mutter deren Ankunft in der DDR im Jahre 1968 schildert.
Dass die romantische Vorstellung der jungen Laotin, es werde schon alles gut werden, wenn sie ihrem Geliebten in ein ihr unbekanntes Land namens DDR, aus dem er gekommen ist und in dem er nach seinem Moskauer Studium Karriere auf dem Gebiet der Außenpolitik macht, folgt, sofort nach ihrer Ankunft Risse bekam, war sicherlich unvermeidlich. Getrennt von ihrer prominenten Familie in der fernen Heimat und nach ihrer Einbürgerung schließlich sogar der Möglichkeit einer kurzen Besuchsreise beraubt – allein ihrer Mutter erlauben die DDR-Behörden einmal einen Besuch bei der Tochter und ihrer Familie –, befallen sie schnell Zweifel, ob ihre gemeinsam gefasste Entscheidung tatsächlich die richtige für sie war:
So sieht doch kein Glück aus, dachte sie jeden Tag, das ist doch kein neues Leben. Wegen so etwas fordert niemand das Schicksal heraus und riskiert das Wohlwollen der Geister!
Dass auch der Staat, in dem sich die multinationale Familie schließlich einrichtet, es in den letzten beiden Jahrzehnten seiner Existenz aufgeschlossenen, weltoffenen und kritischen Bürgern nicht gerade leicht machte, ist ein zweiter Aspekt, der sich wie ein roter Faden durch Kubiczeks Roman zieht. Selbst dem nach Außen hin linientreuen Vater, dessen Karriere ohne die geforderten Lippenbekenntnisse zu Partei und System sicherlich schnell beendet gewesen wäre, gehen die Zumutungen, denen er sich in Beruf und tagtäglichem Leben ausgesetzt sieht, manchmal zu weit.
Wie sich in diesem repressiven Umfeld der ältere Sohn trotz aller ihm immer offensichtlicher werden Widersprüche, denen er sich zunächst in der Schule, dann im Studium ausgesetzt sieht, die für ihn notwendigen Freiräume des Denkens und Tuns erobert, haben schon mehrere der letzten Romane André Kubiczeks thematisiert. Wenn deshalb einige Passagen in Nostalgia an bereits Erzähltes aus diesen Büchern erinnern, so stört das wenig, weil es dem Erzähltalent des Autors gelingt, auch scheinbar Bekanntes in immer wieder neuem Licht erscheinen zu lassen. Dass schließlich der jüngere Bruder des Erzählers – im Roman wird der 1987, ein Jahr nach der Mutter, an den Spätfolgen eines Fahrradunfalls verstorbene Alain Kubiczek so zärtlich wie lautmalerisch Aleng genannt –, bei einer besseren medizinischen Versorgung, wie sie ein paar Kilometer von seinem Potsdamer Wohnort entfernt hinter einer aus politischem Kalkül errichteten Grenzmauer wohl zu haben gewesen wäre, vielleicht überlebt hätte, gehört nicht zuletzt zu den kritischen Blicken auf das Leben der Familie in der späten DDR.
In erster Linie freilich ist Nostalgia ein Mutter-Roman geworden. So – durchaus auch schmerzhaft – nah, wie André Kubiczek hier der 1986 ihrem Krebsleiden Erlegenen kommt, ist ihm das in seinen bisherigen Werken noch nicht gelungen. Auch in dem oben erwähnten Roman Der Genosse, die Prinzessin und ihr lieber Herr Sohn erobert sich der unter dem Rufnamen Kubi firmierende Held bei einer Reise in das ferne Land zwar einen Zugang zu seinen laotischen Wurzeln, behandelt das Schicksal der „Prinzessin“ aber immer noch aus einer gewissen literarischen Distanz heraus. Es musste wohl erst genügend Zeit vergehen, ehe sich der Sohn endlich an das berührende Portrait einer Frau wagen konnte, die ihrem Land und ihrer Familie aus Liebe den Rücken zuwandte und sich in einer Fremde einzurichten versuchte, die unterm Strich nie Heimat für sie zu werden vermochte.
Dass sie in den drei Romanen, in denen Kubiczek seine eigene Jugend zwischen Potsdam und Halle verarbeitete, indem er sie leicht abgewandelt eine Kunstfigur namens René durchleben ließ – Skizze eines Sommers (2016), Straße der Jugend (2020) und Der perfekte Kuss (2022) –, nur am Rande eine Rolle spielt, ist zum einen dramaturgisch begründet. Renés Mutter ist schon tot, wenn der erste der drei Romane, die zusammen eine Trilogie über das Erwachsenwerden in der DDR bilden, einsetzt. Andererseits aber stand wohl der locker-jugendliche Ton, in dem René die Dinge seines Lebens zwischen Anpassung und Rebellion rekapitulierte, einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Mutter-Thema im Weg. Die wurde nun geführt und der Titel des Romans, Nostalgia, verweist auf die Stimmungslage, in der der Autor sein Thema in Angriff nimmt – mutig und nicht ohne eine gewisse Wehmut zugleich.
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