Endlich wieder leben

Harald Jähner veranschaulicht nach seinem preisgekrönten Sachbuch nun mit „Wolfszeit. Ein Jahrzehnt in Bildern. 1945–1955“ mittels Fotografien das Deutschland der Nachkriegszeit

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Jahre zwischen 1945 und 1955 nannte der Journalist und Kulturwissenschaftler Jähner in seinem 2019 erschienenen Buch, auf die Anomie jener Jahre anspielend, Wolfszeit. Wenn er nun Ein Jahrzehnt in Bildern folgen lässt, so geht es nicht so sehr um die Illustrierung seiner vielfach gelobten Reportagen, sondern darum, die Bilder selbst erzählen zu lassen. Jähner ordnet sein Material in zehn Kapitel, die sich thematisch in etwa dem Überleben, dem Wiederaufbau, dem Vergnügen, der Wirtschaft und der Kunst widmen. In jedem Kapitel wird die Entwicklung sichtbar von einem rabenschwarzen Pessimismus zu einem allmählich durchscheinenden Optimismus.

Rund zehn Jahre, so lange dauerte es, bis aus einem völlig zerstörten Land, durch eigene Schuld ausgestoßen aus dem Kreis zivilisierter Nationen, zumindest in der Bundesrepublik das Wirtschaftswunderland wurde. Die Bilder dokumentieren eine umfassende Zerstörung: das unwiederbringlich Verlorene, die biographischen Brüche und Katastrophen, die desolate Wohnsituation, das schleichende Fortbestehen der NS-Ideologie, die massenhaften Bevölkerungsbewegungen, die fragile Versorgungslage. Sie zeigen paradoxe Situationen, wenn sich etwa penibel gefegte und gepflegte Kopfsteinwege durch die rechts und links davon angehäuften Trümmerberge schlängeln, auf denen sich seltsam adrett gekleidete Herrschaften geschäftig hin und her bewegen.

Sie machen das vorsichtige Herantasten an so etwas wie Normalität deutlich, wenn etwa ein junger Mann auf einem Schuttberg eine ganze Reihe selbst gefertigter Puppenwagen und Tretautos für Kinder anbietet. Ja, Eigeninitiative und Ideenreichtum waren gefragt in jenen Jahren, nicht nur auf dem Schwarzmarkt und beim Kohlenklau. Ein Bild zeigt eine Gruppe fröhlicher Wanderschauspieler, die von Kleinstadt zu Kleinstadt zogen und in Gasthöfen und Kellertheatern spielten, ein weiteres die lebensgefährliche Aktion einer Hochseilartistin über einer Trümmerwüste.

Der Richtungsstreit in der Nachkriegskunst zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit wurde dann allerdings auf allerhöchster Ebene entschieden, als man sich in der Ostzone für markigen Realismus sowjetischer Prägung entschied. Andere staatliche Konzepte zur Bewältigung der Krisenlage werden angesprochen, gelungene und wieder verworfene, wie die Entnazifizierung oder die Enteignung von Junkerland.

Die Bilder vermitteln manch erstaunliche Einsichten: 1953 war die Münchner Innenstadt fast komplett wiederaufgebaut. Dem Volkswagen der Nazis hatte man 1955 eine neue Stadt gewidmet. Neben dem berühmten Trümmerbild von Richard Peter, das den Blick vom Dresdner Rathausturm auf die ausgeglühten Ruinen der Stadt zeigt, steht eine Aufnahme zehn Jahre später vom selben Standpunkt aus, die eine riesige, gänzlich freigeräumte Fläche zeigt, auf der lediglich einige Grashalme zu wachsen scheinen.

Die Lagerstrukturen, darunter KZs und Kriegsgefangenenlager, werden noch eine Zeit lang genutzt, von Überlebenden, Flüchtlingen, Vertriebenen und displaced persons. Seltsam nur, dass die Neusiedlungen, die vielerorts für diese entstanden, in ihrer Gliederung und Einförmigkeit auffallend an eben diese Lager erinnern. Irritierend auch zu sehen, wie sich die Arbeiter des Wolfsburger VW-Werks hinter und unter ihren Chef zur Gefolgschaft gruppieren.

Mitte der sechziger Jahre erhielt ich als Teenager ein schwergewichtiges und weitverbreitetes Buch geschenkt, das 1964 bei Bertelsmann erschienen war und den Titel trug: Unser Jahrhundert im Bild. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war darin naturgemäß nur schmal vertreten. Neben einigen ikonischen Bildern herrschten hier reihenweise kleinformatige Fotos jener bekannten Personen vor, die das politische, wirtschaftliche und kulturelle Leben der Zeit bestimmten und von denen die meisten heute vergessen sind. Demgegenüber bleiben in Jähners Buch fast alle Abgebildeten anonym. Umso mehr haben die Namenlosen uns Heutigen zu erzählen. Denn Mitte der 50er Jahre kulminiert die Steigerung des Lebensgefühls. In den rheinischen Metropolen, und nicht nur dort, explodiert die Zuversicht und damit die Fröhlichkeit. Man fährt mit dem eigenen Auto in den Urlaub trotz sehr schlechter Straßenverhältnisse. In den Innenstädten des Westens dominiert nachts die Leuchtreklame.

Obwohl alle Bilder des Buches ein schattiges Schwarz-Weiß aufweisen, manifestiert sich in ihrer Gesamtschau doch die Überwindung einer Menschheitskatastrophe, eine Botschaft, die man in Corona-Zeiten gerne vernimmt.

Titelbild

Harald Jähner: Wolfszeit. Ein Jahrzehnt in Bildern. 1945 – 1955.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2020.
256 Seiten , 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783737101011

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