Philosophieren als „wahr träumen“

Karl Jaspers als Briefautor – Über eine dreibändige Ausgabe mit „Korrespondenzen“ des großen Existenzphilosophen

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Leben ist absurd, erklärten einst die französischen Existenzialisten. Ihr deutscher Kollege Karl Jaspers sprach zwar lieber von „Grenzsituationen“ als vom „Absurden“. Doch war seine eigene Existenz das beste Beispiel für das, was im Jargon der Zeit die „Geworfenheit des Menschen“ hieß: Weil sich Jaspers nach 1933 von seiner jüdischen Frau nicht scheiden ließ, wurde aus dem damaligen shooting star der deutschen Philosophie ein Verfemter: Erst verlor er seinen Lehrstuhl in Heidelberg, dann erhielt er Schreibverbot. Bis zuletzt musste das Ehepaar befürchten, ins KZ verschleppt zu werden, und hatte für diesen Fall die Zyankalikapseln schon bereitgelegt.

Nach 1945 reüssierte Karl Jaspers dann zu einer moralischen Autorität mit einer Breitenwirkung, wie sie heute nur noch schwer vorstellbar ist; für viele wurde er zur deutschen Antwort auf Sartre und Camus. Zwei Jahre nach Kriegsende schrieb Jaspers seinem Kollegen Karl Löwith: „Wunderlich ist […] der Gang der Welt, bei dem die Menschen wie Puppen abwechselnd in die Mottenkiste getan und wieder hervorgeholt werden, um bei diesem Kinospiel verwendet zu werden.“

Nachzulesen ist dieses Schreiben in den „Korrespondenzen“ mit insgesamt über 1500 Briefen von und an Karl Jaspers, aus allen Lebensphasen des 1969 verstorbenen Philosophen, vom Kaiserreich bis in die Zeit der Studentenbewegung. Drei im doppelten Wortsinn gewichtige Bände, von hohem zeitgeschichtlichen Wert und sorgfältig ediert dazu – die aber doch nur eine Auswahl aller erhaltenen Jaspers-Briefe beinhalten. So wurde auf Briefwechsel, die schon anderweitig erschienen sind – wie die mit Heidegger oder Hannah Arendt –, nachvollziehbarerweise verzichtet. Keine Sorge, es bleiben genug große Namen übrig, darunter Philosophen wie Edmund Husserl, Mediziner wie Alexander Mitscherlich, Jaspers-Schüler wie Golo Mann oder Politiker wie Theodor Heuss.

Über den ehemaligen Bundespräsidenten wollte Jaspers 1961, nach dem Mauerbau, an Kennedy herantreten, um für das Recht der DDR-Bürger auf freie Auswanderung zu werben. Jaspers‘ Existenzphilosophie, in den zwanziger Jahren entwickelt, konkretisierte sich nach 45 in politischen Positionen, mit denen er etliche Debatten auslöste. So wurde er für viele zum „Vaterlandsverräter“, weil er die Frage der Freiheit in der DDR für wichtiger hielt als die der Wiedervereinigung. Aber Freiheit war für den Philosophen nun einmal die Voraussetzung für ein existenziell gelingendes Leben, weshalb Jaspers ein strammer Anti-Kommunist war. Jaspers spottete über die „lächerliche Panik“ seiner Professorenkollegen, die den Verzicht auf Atomwaffen gefordert hatten, und trommelte bei Politikern, Militärs und Publizisten für eine starke Bundeswehr: „Die furchtbare Drohung aus dem Osten sitzt den Staatsmännern nicht an der Gurgel, wie es sein sollte. Die Proportionen in der Wichtigkeit der Dinge gehen verloren“.

Ein genuiner Briefautor war Jaspers nicht, wie die Herausgeber betonen. Seine zeitlebens labile Gesundheit erlaubte nur wenige Arbeitsstunden am Tag, die er lieber für seine philosophischen Studien nutzte. Wohl deshalb sind viele der Briefe sprachlich eher ambitionslos geschrieben. Doch gehörte „Kommunikation“ nicht ohne Grund zu den Schlüsselbegriffen von Jaspers‘ Philosophie: Gelingendes Menschsein ohne den fortwährenden Austausch mit anderen war für ihn undenkbar. Gerade während der NS-Zeit waren Briefe für ihn eine Art Refugium seines Reflektierens.

Jene dunklen Jahre waren es auch, die Jaspers‘ späten Drang zur zeitkritischen Publizistik auslösten – durchaus bemerkenswert für einen Philosophen, dem in seiner Beschäftigung mit Platon und Kant „die letzten 3000 Jahre wie eine einzige Gegenwart vor[kamen]“. In der jungen Bundesrepublik äußerte sich Jaspers zu praktisch allen brisanten Themen der Nachkriegszeit, von der Schuldfrage über die Parteienkrise bis zur Atombombe.

Und geriet 1966, als 83-Jähriger, regelrecht in Euphorie, als er  seine politischen Ansichten im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ veröffentlichen konnte. Rudolf Augstein schrieb er 1966: „Ich stelle mir Ihr ‚Lächeln‘ vor, zu dem Sie die Lektüre dieser Seiten brachte. Als ob [ich] ein schwärmerischer Jüngling wäre! In der Tat bin ich bei allem guten Willen zum Realismus ein Träumer und lebe immer aus der Leidenschaft, freien und darum wahrhaftigen Menschen zu begegnen. […] Sie wissen ja, dass meine ‚berufliche‘ Aufgabe die Philosophie ist und das heisst [!] träumen, wenn auch ‚wahr‘ träumen, in einer Aktivität, die sehr anders ist als die in der Welt.“ Philosophieren als ‚wahr träumen‘ – wohl die größte Überraschung dieser ausgewählten „Korrespondenzen“ ist, wie aktuell viele der Probleme sind, die Karl Jaspers umtrieben: ob es der Vertrauensverlust in Medien oder Parteien ist, der Konflikt zwischen Sicherheit und Freiheit oder die psychischen Motive, die Weltbilder und Ideologien speisen. Zeit also für eine Wiederentdeckung!

Titelbild

Karl Jaspers: Korrespondenzen.
3 Bände. Herausgegeben im Auftrag der Karl Jaspers-Stiftung von Matthias Bormuth, Carsten Dutt, Dietrich v. Engelhardt u.a.
Wallstein Verlag, Göttingen 2016.
2248 Seiten, 99,00 EUR.
ISBN-13: 9783835310056

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