Scharfe Worte: Sprach-Geschosse

Zu Elfriede Jelineks neuem Buch „Angabe der Person“

Von Herbert FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Schillernde, leicht Unbestimmte des Titels wirft Fragen auf: Was für ein Text ist das eigentlich: ein Bericht, eine Streitschrift, eine Vorlage für eine Bühnenaufführung? Ist die „Person“ weitgehend identisch mit der Autorin oder doch eher eine fiktive Gestalt und überhaupt: Wie biographisch ist der Text? Immer wieder scheint es sich um eine Art Dialog zwischen zwei oder mehr Sprechern zu handeln, ein Verhör vielleicht, unterbrochen von direkten Anreden an ein Lesepublikum: Was bedeutet diese Konstellation? Oder sollte man den Text nicht eher als ein langes Selbstgespräch lesen?

Je intensiver sich der Leser mit dem neuen Buch der großen österreichischen Erzählerin, der Nobelpreisträgerin von 2004, beschäftigt, desto belangloser werden die Fragen. Die grandiose Sprachwucht des Buches zieht ihn in ihren Bann. Die Erzählerin rückt ganz eng an den Leser heran; ihr Text fesselt von der ersten Zeile an.

Der Schreibanlass wird am Anfang des Buches benannt: Es geht um den Vorwurf der Steuerhinterziehung gegenüber der Autorin („das Hinterziehen ist ja zum Volkssport geworden“) und um deren Unschuldsbeteuerungen („ich mache es lieber nicht, ich denke an meine persönlichen Fähigkeiten, die ich nicht habe, und an meine Familie, die ich auch nicht habe“). Der Text lebt von diesem Spannungsverhältnis: dort der Verdacht der Behörden, die immer wieder wie ein kafkaesker übermächtiger und übergriffiger, anonymer, letztlich unmenschlicher Verfolgungs- und Verhörapparat erscheinen, hier die einzelne, die ihre Unschuld beteuert, die man hinhält, der man, zumal einer Schriftstellerin, die sowieso bei vielen aneckt und anstößt, von vornherein nicht glaubt. Der Text ist ihr Versuch, mit Hilfe einer sarkastischen, ironischen, auch selbstironischen, bitterbösen, einmal klagenden, einmal höhnisch-hämischen Sprache gegen die Beschuldigungen anzuschreiben.

Überzeugend und brisant wird die Darstellung durch mehrere literarische Kunstgriffe der Autorin.

Was im Text geschildert wird, bezieht sich auf eine reale Situation. Die wird zwar nie genau und detailliert dargestellt, aber in vielen Sätzen und Szenen angedeutet; im Verlauf des Textes werden die Zusammenhänge konkreter, das Vorgehen der Beamten absurder und die Demütigung der Autorin, der größten deutschsprachigen Schriftstellerin der Gegenwart, krasser. Den seelenlosen Apparatschiks der Steuerbehörde werden spöttische Worte in den Mund gelegt:

Glauben Sie, wir haben nichts Besseres zu tun, als Ihnen zu glauben? Bei Ihnen zu Hause glaubt man Ihnen vielleicht, hier glauben wir Ihnen gar nichts.

Im zweiten Teil des Buchs sind die Hausdurchsuchungen und die Beschlagnahme von Schriften der Autorin ein starkes wiederkehrendes Motiv. Sie werden in der Schilderung Jelineks zu einem grotesken und absurden Vorgang.

Indem die Erzählerin ihren Text in einer realen Situation verankert, sozusagen eine außersprachliche Wahrheit bemüht, um das, worüber sie schreibt, jeder zweifelnden Nachfrage zu entziehen, wird der Text angriffsstark, lässt keine Kritik zu und rechtfertigt wie selbstverständlich Jelineks Spott, Häme, Ärger, Sarkasmus. Dass sich die Anschuldigungen später als falsch erweisen, stärkt die Beschuldigte und gibt ihr für ihre Verteidigung und ihren Angriff („Dabei ist meine Verfolgungslust noch längst nicht gestillt“) ein hohes moralisches Recht.

Der Text geht noch einen Schritt weiter. Er behauptet, das ungerechtfertigte Vorgehen der Behörden sei nicht zufällig, sondern habe steuerpolitische Methode. Das Vorgehen  rechtfertige sich für die Beamten aus der bloßen Tatsache, dass der Staat und die so genannte Hochfinanz ein augenzwinkerndes Bündnis miteinander eingegangen seien: Der Reiche werde nicht beobachtet, verdächtigt oder gar belangt, der weniger Kapitalkräftige dagegen schamlos verdächtigt und zur Steuerkasse gebeten. Für die einen gebe es die Steueroasen als Fluchtmöglichkeit, den Schwächeren gegenüber spiele der Staat seine Macht aus.

Der Staat ist eine Macht, er hat keine Zähne mehr, aber wenn er jemanden sieht, der ihm nicht schmeckt, dann zieht er sofort sein Gebiß aus dem Glas und setzt es sich ein, damit er jeden, den er will, fressen kann.

Die Erzählerin scheut nicht davor zurück, ihre Streitschrift an Namen festzumachen, z. B. am VW-Konzern, an der FIFA oder der Fußballmannschaft von Bayern München, natürlich am Wurstfabrikanten Dieter Hoeness oder am einstigen Tennisstar Boris Becker. Sie und andere werden als Zeugen angeführt, um zu zeigen, dass sich einige ganz andere Dinge dem Staat gegenüber herausnehmen können als die so genannten Kleinen.

Kritische Sätze schreibt sie auch über die Schweiz:

Schweiz? Kleiner Kraftlackl. Wird immer praller, als Schiffsladung wäre es schon längst untergegangen, kein Wunder. Sie hat es immer vom Lebendigen genommen. Die Toten geben ja nichts her. Die geben einfach nichts her. […] Gut gemacht, Schweiz!, alles richtig gemacht!, Erfolgsgeschichte Schweiz.[…] Sie muß sich nicht regen, den Segen bringen ihr andere.

Über Deutschland und Österreich gibt es ähnliche harsche Aussagen. Es kommen viele Länder und Namen von Personen „dran“, wie sie es einmal formuliert. Nach Beispielen, an denen sie die Ungleichheit festmachen kann, braucht Jelinek offensichtlich nicht lange zu suchen.

Das gewichtige Kernstück des Buches ist allerdings etwas anderes: Was die deutschen Steuerbehörden, was die bayerischen Steuerbeamten sich an Drangsal für die Erzählerin ausdenken, wird von ihr in einen großen Verfolgungszusammenhang der Mitglieder der Familie Jelinek eingebettet. Das gibt dem gesamten Text eine verstörende Doppelbödigkeit. Die Steuer-Ungerechtigkeiten werden in die Nähe von Naziverbrechen gerückt. Jedenfalls wird eine Parallelität suggeriert, die nahelegt, das eine in bestimmter Weise als Fortsetzung des anderen zu verstehen. Wie die Autorin jetzt durch falsche Anschuldigungen verunglimpft und drangsaliert wird, wurden – Jelinek schildert das eindringlich – Mitglieder der Familie schon früher, in schrecklicherer Weise, von den Nationalsozialisten wegen ihrer jüdischen Abstammung unterdrückt, verfolgt, verjagt und in Konzentrationslagern ermordet. Bei den Überlebenden entstanden Verletzungen und Traumata, die ihr Leben für immer beeinträchtigten und zerstörten. Der Vater der Erzählerin ist dafür ein Beispiel, aber auch ihr Vetter Walter Felsenburg und ihr Onkel Leopold Jelinek.

Jelineks Vater wurde wegen seiner Zugehörigkeit zum Judentum von den Nationalsozialisten verfolgt, erkrankte nach dem Krieg psychisch und starb 1969. Walter Felsenburg, über den Jelinek mit liebevollen Worten schreibt, wurde von dem Nazi-Anwalt „Doktor Scheiß-Inquart“ – eine solche Häme nimmt sich die Autorin wie selbstverständlich heraus – verfolgt und vertrieben. Ihren „Onkel Poldl“ schildert sie als „zurückhaltenden lieben Menschen“, den die Deutschen „splitternackt [auszogen], bevor sie ihn umgebracht haben.“

Neben dem nationalsozialistischen Anwalt Seyß-Inquart, der nach dem Krieg in Nürnberg verurteilt und hingerichtet wurde, spielt bei ihrem Blick in die Vergangenheit der 1940er Jahre die Familie des ehemaligen Reichsjugendführers Baldur von Schirach („[…] wo sie doch beide so gut waren im Töten“) eine große Rolle. Die Schirachs führt sie als Beispiel dafür an, wie ungerecht, weil extrem ungleich, Deutschland nach dem Krieg mit Mitläufern der Nationalsozialisten und mit Verfolgten des Naziregimes verfuhr. Während die einen, die Schirachs z. B., ihren wertvollen Grundbesitz an einem See zu großen Teilen für wenig Geld zurückkaufen konnten und damit frühzeitig zu den Privilegierten und Wohlhabenden gehörten, wurden andere, Jelineks Familie etwa, in keiner Weise entschädigt:

Die Oma Schirach also, die Henriette, die hat das Geschäft ihres Lebens mit robuster Hilfe der Bayern gemacht,[…] Der Herr Baron von Fink, die Stars alle, die Erdroßler, die Schläger und die Rückschläger, alle, alle sitzen sie an und auf diesen Seen, und wo bleiben wir? Wie komme ich dazu, daß ich den See überhaupt nicht aus der Nähe begutachten kann? Und den dort auch nicht? Weil die Ufer alle schon jemandem gehören.

Indem Jelinek geschichtliche Vorgänge durch Namen und biographische Einzelheiten konkretisiert, holt sie die Vergangenheit in die Gegenwart zurück; sie gibt Vergangenem eine demonstrative, provokante Gegenwärtigkeit; Geschichte verliert ihre Distanz, Namen werden zu Menschen. Die Grausamkeit gegenüber Verfolgten in Nazi-Deutschland wird greifbar; sie bewirkt Entsetzen im Leser und gleichzeitig Empörung über die neuerliche ungerechte Behandlung einer renommierten Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin durch süddeutsche Behörden.

Elfriede Jelinek deutet in ihrem Buch an mehreren Stellen an, dass sie ihr Schreiben auch und vor allem als Erinnerungsarbeit verstehe. Denn „die Erinnerung an diese Schrecken, die ich gar nicht selbst erlebt habe, muß erst gebildet werden.“ Ihr Insistieren darauf, das Vergangene mit seinen Verbrechen, vor allem an den jüdischen Menschen, nicht vergessen zu lassen, macht sie – das ist ihr bewusst – zu einer bei vielen anstößigen Autorin. Sie ist darin ein Opfer, wie sie einmal sagt, ihres eigenen Schreibens. Aber das nimmt sie in Kauf. Sie weicht – das hat tragische Züge – einer schonungslosen Selbstanalyse nicht aus:

In mir beschimpfe ich mich selbst, bis es auch andre tun, ich erniedrige mich selbst, bis es auch andre tun, ich mache mich selbst leiden, bis das andre tun, und ich gewinne daraus eine sadistische Befriedigung.

Jelinek legt, indem sie das rüde Verhalten der Steuerbeamten ihr gegenüber mit einem überregionalen kapitalistischen Finanz- und Geldsystem verbindet und durch Rückverweise auf die Verfolgung und Ermordung von Juden in Nazideutschland erschreckende rassistische Untaten anprangert, ein strukturelles Problem ungleicher und höchst demütigender Behandlung von Bürgern in der Vergangenheit wie in der Gegenwart offen. Daraus nimmt sie sich das Recht, in scharfen Worten gegen die Ungerechtigkeit anzuschreiben und vor allem die deutschen Behörden und darüber hinaus Deutschland überhaupt zu kritisieren, herabzusetzen und lächerlich zu machen. Wenn ihr das gelingt, und es gelingt ihr an vielen Stellen verstörend gut, hat sie sich nachträglich von dem Makel, Steuern für einen Zweitwohnsitz in der Münchener Wohnung ihres Mannes nicht ordnungsgemäß gezahlt zu haben, freigesprochen. Ein deutscher Staat, der so, wie sie ihn beschreibt, ihr gegenüber auftritt und agiert, hat in ihren Augen das moralische Recht des Anklägers verloren. „Deutscher Staat, ich hasse dich“, schreibt sie und sagt an einer anderen Stelle über die Deutschen und das Dritte Reich:

Es sind keine guten Deutschen und es sind keine schlechten Deutschen gewesen, sie können es überhaupt nicht gewesen sein, sie schlagen sich deswegen schon auf die Brust, und dann schlägt innen jemand auf den Rücken, bis sie die ganze Schuld wieder ausgespuckt haben, bis sie die Richtigen gefunden haben, die schuld waren, die aber auch schon tot sind, es sollen ihnen möglichst viele dabei zuschauen, daß es die gar nicht mehr gibt.

Zu einem packenden literarischen Kunstwerk wird Angabe der Person durch seine Sprache, ihre „Wut“- und „Zorn“-Sprache, wie sie sie einmal nennt. Sie ist das eigentliche Leseerlebnis. Der Jelinek-Sound – der Ausdruck ist nicht despektierlich gemeint – mit seinen ironischen, auch selbstironischen, sarkastischen, bitterbösen Sätzen, voller Aggressivität und Mehrdeutigkeiten und immer wieder voller Verzweiflung und – gegen Ende hin – voller Resignation, mit Zitaten aus Liedern und Sprichwörtern, gespickt mit zahlreichen Wortspielen, das alles überwältigt den Leser, lässt ihn kaum Atem holen vor Anspannung. Die rhythmisierte Prosa mit ihren kunstvoll-kolloquialen Sätzen und Ausdrücken schafft einen Redefluss, der den Leser mitreißt.

Dass Jelineks Sprachgewalt auch eine Macht darstellt, wird von Beginn des Buches an deutlich. Es ist ein Sprechen / ein Schreiben gegen die Rolle, die der Autorin von den Behörden, vielleicht darf man verallgemeinern: vom deutschen Staat aufgezwungen wird: die schlimme Rolle des Opfers. Nicht beim Gericht oder den Behörden, denen sie so sehr ausgesetzt scheint, liegt aber – das beweist das Buch – die eigentliche Macht, sondern bei der Dichterin. Sie ist die Sprecherin und hält alle Fäden in ihrer Hand. Sie führt vor, stellt dar, schildert, breitet aus, was sie an Zumutungen ertragen musste. Sie hat alle Möglichkeiten, die Leser von ihrem Standpunkt zu überzeugen und auf ihre Seite zu ziehen. Bei ihr liegt die Deutungshoheit der Vorgänge; sie beansprucht zu Recht eine unwidersprochene moralische Größe und Überzeugungskraft.

Aber Jelinek durchschaut ihr eigenes Spiel und sieht dessen Grenzen. Sie erkennt, dass, was sie schreibt, letztlich niemanden erreichen und nichts verändern wird. Ihre Stimme kann noch so schrill, laut, aggressiv tönen, einen großen Nachhall wird sie nicht haben.

Niemand interessiert das, ich weiß, ich habe eine sadistische Ader, ich schreibe das mit solcher Wonne hin, ich schreibe es auf für keinen, für niemanden, für nichts, ins Wasser, in die dicke Luft, welche hier herrscht, ich muß aber aufpassen, daß ich nicht selbst reinfalle, wenn die Grube einmal fertig ist.

Solche Einschübe und Zusätze über ihr Schreiben häufen sich im Buch. Jelinek weiß um die grundsätzliche Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit ihres Dichtens, aber sie ist es sich schuldig, nicht zu schweigen, wenn es um Unrecht und die Wiedergutmachung gegenüber Opfern geht. Das gibt ihr als Schriftstellerin eine Würde, die sie nicht antasten lässt, schon gar nicht von Steuerfahndern aus Bayern oder Leuten, die „Nestbeschmutzerin“ schreien. Die Nähe zu Camus, dessen Name im Buch fällt, ist nicht zu übersehen.

Damit der Text wirken kann, sollte er, in Teilen wenigstens, laut gelesen werden. Auf die Bühnentauglichkeit muss bei Jelinek-Texten nicht eigens hingewiesen werden. Es überrascht nicht, dass Angabe der Person bereits kurz nach der Veröffentlichung im Deutschen Theater in Berlin als Sprechstück inszeniert wurde. Weitere Aufführungen an anderen Theatern werden sicherlich folgen.

Titelbild

Elfriede Jelinek: Angabe der Person.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2022.
192 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783498003180

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