Unter den Blinden ist auch ein Blinder König

In Elfriede Jelineks Theaterstücken „Am Königsweg“ und „Schwarzwasser“ treffen antike Mythen auf rechtspopulistische Politiker

Von Jannick GriguhnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jannick Griguhn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wird die Welt immer verrückter? Vielleicht war sie nie anders und die Menschen waren nur blind gegenüber den realen Zuständen. Dieses Gefühl erhält man, wenn man sich in die Textwelten der Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek begibt. In den gemeinsam erschienenen Theaterstücken Am Königsweg und Schwarzwasser verhandelt Jelinek den global um sich greifenden Rechtspopulismus beziehungsweise -extremismus, der die drastischen Folgen des Klimawandels verharmlost und die Gewaltbereitschaft der Menschen mittels politischer Hetze fördert. Am Königsweg gilt bereits als eines der erfolgreichsten Theaterstücke der letzten Jahre im deutschsprachigen Raum. Die Deutschlandpremiere des Stücks Schwarzwasser steht aufgrund der Corona bedingten Einschränkungen noch aus, allerdings konnte es bereits am 6. Februar diesen Jahres im Wiener Burgtheater unter der Regie von Robert Borgmann uraufgeführt werden.

Beide Texte warten mit grotesken Konstellationen auf: Während im Stück Am Königsweg Donald Trump als blinder „König Ödipus“ aus Sophoklesˈ gleichnamiger Tragödie auftritt, versetzt Jelinek in ihrem satyrspielähnlichen Stück Schwarzwasser österreichische Politiker*innen mitsamt der österreichischen Bevölkerung in einen dionysischen Rauschzustand. Hierfür verwebt sie Euripidesˈ Drama Die Bakchen mit der sogenannten „Ibiza-Affäre“, die die österreichische Politiklandschaft im letzten Jahr erschütterte.

Die Autorin entspinnt in beiden Stücken intertextuelle Diskursgeflechte, die die Korruption und die rassistischen und misogynen Einstellungen rechtspopulistischer Politiker*innen offenbaren. Jelinek versteift sich jedoch nicht auf die tagespolitischen Ereignisse und hält ihre Texte, abseits offensichtlicher Anspielungen auf das Politikgeschehen in Österreich und den USA, offen und damit übertragbar auf andere Länder und Zeiten.

Jelineks Sprache

Jelineks Figuren werden mitunter als Sprachflächen bezeichnet, da viele ihrer Dramentexte, wie auch die beiden vorliegenden, keine identifizierbare, referentielle Sprechinstanz ausstellen, sondern sich vielmehr einer Vielstimmigkeit bedienen. Die Ähnlichkeiten zum Chorischen der antiken Tragödie werden bewusst hergestellt und sind typisch für Jelinek, die mittels der Vielstimmigkeit ihrer Texte auch die Heterogenität der Stimmen in den intertextuellen Diskursen widerspiegelt. So tauchen in Am Königsweg zahlreiche Anspielungen auf Donald Trumps Skandale auf, wie beispielsweise die Ausbeutung polnischer Arbeiter*innen beim Bau seines Trump-Towers oder die sexuelle Belästigung und Vergewaltigung mehrerer Frauen. Jelinek verzichtet trotz der Ernsthaftigkeit ihrer Themen nicht auf humoristische Elemente und webt Sprach- und Wortspiele ein:

Der Erwählte, den die Ermächtigung erwählt hat, der ist längst hinter Ihnen, er ist nicht mehr ein Vorläufer, er ist ein Hinterlauf, nein, ein Hinterlader, nein, das nun ganz sicher nicht, dafür haben wir Beweise, zwei, drei Beweise mit Sicherheit, sie durften sogar gratis im Turm wohnen, sie waren alle Frauen, also weiblichen Geschlechts, und ihr herrliches Haar herunterlassen, bis der Prinz kam und abwinkte, als er den Rest auch noch gesehen hatte. […] Irgendwann mal führt der König nicht mehr, weil er schon alle angeführt, aber keine einzige Frau außer seiner abgeschleppt hat, er sagt, das Seil sei ihm gerissen, sonst hätte er sie alle gekriegt, es fehlen ihm nicht mehr viele. Jetzt hat er dafür, daß er führt, das ganze Land, das er anführen darf, er ist auf niemanden mehr angewiesen, er muß niemandem mehr was überweisen. Er kann seine Anweisungen erteilen.

Sprachlich bewegt sich Jelinek auf ihren altbekannten Pfaden und so strotzen beide Stücke vor Wort- und Sprachspielen, Kalauern, Zitatmontagen, Wiederholungen, Paronomasien und Metonymien. Besonders auffällig erscheint letzteres Stilmittel im Text Schwarzwasser, der das Bedeutungsfeld Wasser in mehrfacher Hinsicht behandelt. Auf der inhaltlichen Ebene offenbart die Privatisierung der heimischen Seen und Flüsse sowie des knappen Guts Wasser das korrupte Verhalten der sich volksnah gebenden rechtspopulistischen Politiker*innen wie H.-C. Strache, die bei öffentlichen Auftritten Österreich als idyllische Heimat stilisieren und die Natur anpreisen.

Die Sprachflut, mit der sich die Leser*innen konfrontiert sehen, entpuppt sich als Stummheit und Ohnmacht der Autorin gegenüber den globalen Entwicklungen, die sowohl den Klimawandel als auch faschistoide und korrupte Tendenzen in der Politik befördern. Das Schwarzwasser repräsentiert folglich einerseits die verheerenden Folgen des Klimawandels, der durch den kapitalistischen Wachstumszwang beschleunigt wird; andererseits den braunen Sumpf im politischen Sinne, in dem sich rechtspopulistische und rechtsextreme Politiker*innen tummeln und die Wähler*innen in ihre Gefilde locken.

Jelinek selbst sieht ihre Figuren nicht als Sprachflächen, sondern als „Produkte von Ideologie“ an, bei denen „nicht der reine Mensch vor uns, sondern seine Absonderung und seine Absonderlichkeit, wie Gestank, der ihn umweht“, vor uns stehe. Die Sprechinstanzen stehen metaphorisch gesprochen selbst bis zu den Kniekehlen im „Schwarzwasser“. Der unaufhörliche Redefluss erschwert die Lektüre beider Texte ungemein, da die Stücke durch ihre Handlungslosigkeit und die endlos wirkenden parataktischen Satzstrukturen ein hohes Maß an Aufmerksamkeit erfordern. Die Aufmerksamkeit wird allerdings auch belohnt, das angestrengte Lesen regelmäßig durch humoristische Einschübe aufgelockert.

Die menschliche Gewaltspirale

Im Zentrum beider Texte stehen die Überlegungen des französischen Kulturanthropologen René Girard zur Gewalt, die ohnehin ein zentrales Element in Jelineks Werken darstellt. Girard geht in seiner mimetischen Theorie davon aus, dass sich Menschen innerhalb einer Gemeinschaft nachahmen, was automatisch zu Konflikten führt. Das liegt Girard zufolge daran, dass die Welt und damit auch Güter und Objekte der Begierde begrenzt sind. Somit kann beispielsweise ein bestimmtes Grundstück von mehreren Menschen begehrt, aber nur von einer Person oder einigen Wenigen letztlich besessen werden. Dadurch entstehen auch auf kollektiver Ebene Rivalitäten, die eine Gewaltspirale in Gang setzen und in deren Zuge das Ursprungsmotiv des Konflikts verloren geht. Die Gewaltspirale innerhalb einer menschlichen Gemeinschaft kann, folgt man Girard weiter, nur durch die Opferung eines Sündenbocks durchbrochen werden. Die Typologien der Gewaltspirale alle-gegen-alle, alle-gegen-einen und Bruder-gegen-Bruder sind bereits in der antiken Mythologie vorzufinden.

Jelinek überträgt Girards mimetische Theorie, die die Phänomene der Nachahmung und Gewalt untrennbar miteinander in Verbindung setzt, auf die westlichen Gesellschaften und vermag dadurch zu erklären, weshalb sich beispielsweise antisemitische, islamophobe oder rassistische Ressentiments verbreiten können. In Schwarzwasser lässt sie eine Menschenmasse in einen dionysischen Rausch verfallen, der in Gewaltexzessen mündet. Jelinek setzt hier faschistoide Massenbewegungen mit dem wahnhaften Zustand gleich, in dem sich die Bevölkerung Thebens durch die Manipulation des Gottes Dionysos befand:

Wir bringen die Menschen zum Kochen, wenn sie sich in unserem Namen versammeln. Dann platzen sie vor Wut. Sie kapieren den Unterschied zwischen Menschsein und Gottsein nicht. Sie werden in einer Stadthalle neu getauft werden, dann wissen sie wieder, wer unser Gott ist, er wird ihnen dort gezeigt, sie haben schon drauf gewartet, also ich sage Ihnen jetzt was zu diesem Gott: Zuerst treten seine Anhänger so sanft auf, daß man gähnen muß, wenn man sie sieht, es ist geradezu lächerlich, wenn sie schließlich mörderisch werden, es ist so lächerlich wie mörderisch, Glieder ausreißen, andre Glieder essen, damit herumschmeißen, die haben sie doch nicht alle!

Der blutige Gewaltrausch ist folglich nicht nur durch den Hass und die Manipulation der Menschen zu erklären, vielmehr dient die Opferung eines Sündenbocks der Kanalisation und Legitimation des unvermeidlichen Gewaltausbruchs, der im Nachahmungsverhalten des Menschen begründet liegt.

Mythen des Alltags

Jelinek zielt mit der Mythisierung der tagespolitischen Ereignisse geradewegs auf eine Mythendekonstruktion, genauer gesagt: auf die Dekonstruktion unserer „Mythen des Alltags“, wie Roland Barthes sie bezeichnet. Nach Barthes sind Mythen keineswegs nur fernliegende Glaubenskonstrukte. Vielmehr entstehen sie durch sprachliche Modifikationen, die Phänomene als normal erscheinen lassen, die nicht normal sind. Aus normbehafteten Konstrukten werden vermeintliche Tatsachen geschaffen, wie beispielsweise der unsichtbaren Hand des Marktes selbstregulierende Kräfte und eine Naturgesetzmäßigkeit zugeschrieben werden. Die Erschaffer*innen der Mythen zielen mit der Mythisierung des Alltags auf eine Verschleierung der dahinter liegenden Normen, die etabliert werden sollen. Jelinek demaskiert die Trivialmythen unserer Zeit, indem sie sie sprachlich ad absurdum führt und damit ihre Künstlichkeit aufzeigt. Wenn sie in Schwarzwasser Politiker wie Sebastian Kurz als dionysischen Gott stilisiert, zeigt sie die Verblendung von Teilen der Bevölkerung auf, die gemäß des Soziologen Max Weber den charismatischen Herrschern blindlings folgen:

Es ist eine Masse, eine unkritische Masse, die da entstanden ist, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern, die Freundschaft zwischen was weiß ich wem und wer der andre ist, es muß keine Parteifreundschaft sein, eher eine allgemeine Freundschaft, egal, das alles mündet jetzt auch in Gewalt. Alles wird gewalttätig. Je friedfertiger und vernünftiger dieser Gott auftritt, desto mehr treibt er uns hinein, wir wollen ja nicht, aber wir müssen. Er treibt uns der Gewalt in die Arme, damit er dann selbst als Vernunft und Friede auftreten kann. […] Er wird den Unterschied zwischen Gott und den Menschen auflösen und dann als einziger Gott aufs Neue erscheinen, nachdem er die Menschen kurz- und kleingemacht hat, weil sie geglaubt haben, sie wären wie er.

Die Identifikation großer Teile der Bevölkerung mit den politischen Führungspersönlichkeiten führt zu einer Autoritätshörigkeit und kreiert automatisch eine Feindschaft gegenüber allen, die sich gegen den politischen Herrscher richten. Jelinek beschränkt sich jedoch nicht darauf, die Schuld bei den Menschen zu suchen, sondern sieht in Am Königsweg vor allem in den Auswüchsen des globalisierten Kapitalismus Gründe für die Wahl Donald Trumps. Die eigentliche Konfliktlinie verläuft folglich nicht zwischen dem völkischen Konstrukt ,Wir gegen die Fremdenʻ, sondern zwischen Arm und Reich:

Die Früchte des Globus, nein, der Globalisierung sind endlich so unfair wie möglich verteilt, die Unzufriedenen wachsen auf Bäumen und werden gepflückt und zu Saft verarbeitet, das bringt mehr, als sie roh zu essen, denn für Saft kann man auch die fauligen und die matschigen und die gemeinen nehmen.

Die grassierende Arbeitslosigkeit in den USA und die Enttäuschung der amerikanischen Bevölkerung gegenüber dem politischen Establishment waren entscheidende Faktoren für die Wahl Trumps, der mittels seiner medialen Inszenierung, wenngleich auch keine politischen Lösungen, so zumindest politisches Entertainment für viele seiner Anhänger*innen bietet. Jelineks Mythenverknüpfungen legen die Korruption rechtspopulistischer Politiker*innen offen, indem sie sie im dionysischen Rausch oder im Falle Straches betrunken auf Ibiza davon schwadronieren lässt, Zeitungen übernehmen zu wollen, die Wasserqualität zugunsten des Profits zu opfern oder staatliche Straßenbauprojekte an nützliche Partner*innen zu vergeben.

Die Stellung der Frau

Jelinek beschäftigt sich seit Beginn ihrer schriftstellerischen Karriere mit der Unterdrückung der Frau in einer patriarchalen Gesellschaftsordnung und zeigte beispielsweise in ihrem Roman Lust schonungslos den körperlichen und geistigen Missbrauch von Frauen durch ihre Ehemänner auf. Auch in den neu erschienenen Theatertexten ist die männliche Vormachtstellung innerhalb der politischen Systeme auffällig. In Schwarzwasser stellt Jelinek den verlogenen und misogynen Diskurs über Frauen in rechten Kreisen in aller Drastik dar, die sich in ihrem Selbstverständnis als Beschützer und damit implizit auch als Besitzer der Frauen aufspielen. Gleichzeitig reproduzieren sie Geschlechterbilder aus dem 19. Jahrhundert, die den Mann der Sphäre der Kultur und die Frau der Sphäre der Natur zuweisen:

Die Fremden, die wollen unser Brot erbrechen und unsere Wurst nicht essen. Und jetzt haben sie hier einen Mann erstochen und eine Frau geschändet, das zeigt leider keineswegs die Überlegenheit der Frau an, daß man sie unbedingt kleinmachen wollte, eher im Gegenteil, sondern macht vielmehr deutlich, daß die Frauen die mehr oder weniger passiven Zuschauer dieser komischen Tragödie sind, an der sie fast nie teilnehmen. […] Wie das Tier und das Kind kann die Frau, wenn auch in geringerem Maße, aufgrund ihrer Schwäche und relativ marginalen Stellung im Opfer eine Rolle spielen, sie will aber immer die Hauptrolle spielen, danach drängt es sie, das kennen wir schon. Die Frauen sind schließlich unsere Heiligen, darauf bestehen sie, wissen aber nicht, was mit Heiligen schon alles passiert ist.

Elfriede Jelinek gehört zweifelsfrei zu den umtriebigsten Theaterschaffenden unserer Zeit. Dass ihre Theatertexte stets eine Hürde für Regisseurinnen und Regisseure darstellen, liegt nicht nur an der Verknüpfung antiker Mythologien mit aktuellen Ereignissen, sondern vielmehr an Jelineks Sprachgewalt und den nicht personifizierten Sprechinstanzen. Die Autorin setzte die faschistische Vergangenheit Österreichs und Deutschlands und deren Fortwirken in unserer Gegenwart bereits in einigen ihrer Theaterstücke ins Zentrum und knüpft mit ihren neu erschienenen Texten nahtlos an ihren Themenschwerpunkten und ihrem einzigartigen Schreibstil an. Sowohl Am Königsweg als auch Schwarzwasser bieten reichlich Stoff zum Nachdenken über die zunehmenden faschistoiden Tendenzen weltweit und regen trotz der Schwere der Themen zum Schmunzeln und Lachen an. Jelinek positioniert sich somit weiterhin als Vertreterin einer Engagierten Literatur, die in diesen Zeiten besonders vonnöten erscheint. Es bleibt zu hoffen, dass sie auch zukünftig nicht verstummt.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Elfriede Jelinek: Schwarzwasser. Am Königsweg. Zwei Theaterstücke.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2020.
240 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783498001995

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