Krieg und Frieden als Perpetuum mobile

Lotte Jensen legt mit „Vieren van Vrede“ eine Studie zur Entwicklung der nationalen Identität in den Niederlanden vor

Von Lina SchröderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lina Schröder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vorliegende Publikation entstand im Rahmen des Projektes „Proud to be Dutch. The Role of War and Propaganda Literature in the Shaping of an Early Modern Dutch Identity 1648–1815“ der Nederlandse Organisatie voor Wetenschappelijk Onderzoek. Die an der Radboud Universität Nijmegen lehrende Autorin Lotte Jensen untersucht die Entwicklung der niederländischen Identität anhand zeitgenössischer Friedenstexte wie Gedichten, Liedern, Schauspielen und Predigten zwischen der „offiziellen Geburtsstunde der heutigen Niederlande“, dem Frieden von Münster, und dem Wiener Kongress als zwei für den „europäischen Frieden“ einschneidende Ereignisse. Die Arbeit ist, neben Einleitung und Schlussbetrachtung, in vier große Abschnitte unterteilt, welche in chronologisch angeordneten Unterkapiteln die für die Niederlande bedeutenden Friedensverträge zum Ausgang nehmen: die Frieden von Münster (1648), Breda (1667), Nijmegen (1678), Rijswijk (1697), Utrecht (1713), Aachen (1748), Amiens (1802) sowie den Wiener Kongress (1815). 

Einleitend postuliert Jensen zunächst den Krieg als auslösendes Moment für die Entwicklung eines Zusammengehörigkeitsgefühls. In der Folge geht die Autorin der Frage nach, inwieweit Friedensabkommen zur nationalen niederländischen Identitätsformung beitrugen. „Terminologie“ und „Semantik“, darunter Begriffe wie z.B. „Vaterland“, „niederländisches Staatstum“ oder „vrye Nederlanden“, stellten bei der Entwicklung einer nationalen Identität nicht nur wichtige Eckpfeiler dar, sondern sie rechtfertigten trotz des praktizierten Regionalismus einzelner Provinzen auch eine nationale Auswertungsperspektive, so Jensen. Ferner müsse, der Definition von „national“ von Joep Leerssen folgend, zwischen „nationalem Denken“ und „Nationalismus“ unterschieden werden. Letzteres beziehe sich auf den im 19. Jahrhundert einsetzenden politischen Nationalismus, während Ersteres politische und kulturelle Aspekte, wie z.B. die Funktion von Literatur als Verbreitungsmedium, berücksichtige. 

Das erste Kapitel nimmt den Frieden von Münster zum Ausgang. Die Generalstaaten ließen diesen am 5. Juni in der gesamten Republik verkünden. In den Friedenspublikationen lasse sich ein Bezug auf Vergil und Ovid nachweisen, sie seien eng mit der Voraussage einer goldenen Zeit („gulden eeuw“, „gouden Vreede“, „goude Vrijheit“) verbunden. Politisch sei die Zeit jedoch alles andere als einfach gewesen: Utrecht, Zeeland und eine Fraktion in Leiden (Holland) verweigerten sich zunächst dem Friedensschluss. Insbesondere bestand eine enge Union zwischen Zeeland und Holland, da dort, so die Autorin, „de opstand tegen de Spanjaarden was in deze streken ontkiemd – der Aufstand gegen die Spanier aufkeimte“. An dieser Stelle ist allerdings einzuwenden, dass das ursprüngliche „Unruhezentrum“ von 1566/67 im Artois und im Hennegau, sowie in Teilen von Flandern und Brabant (heute zu Frankreich und Belgien gehörig) lag. Richtig ist allerdings, dass es zwischen Zeeland und Holland eine enge Verbundenheit gab, was nicht zuletzt daraus resultierte, dass die Statthalterschaft der beiden Provinzen, zumindest zeitweise, Wilhelm von Oranien innehatte. Eben seine Person wird, so Jensen, neben den klassischen Figuren, der Friedensgöttin Pax und dem Kriegsgott Mars, und religiösen Aspekten, sowie dem Batavermythos, in der hier thematisierten Friedenspublizistik fokussiert. Insgesamt sei es, so die Schlussfolgerung der Autorin, den Verfassern dieser Zeit bewusst oder unbewusst vor allem um die Legitimation der Republik und weniger um die nationale Identität gegangen. Noch politischer, auch bezugnehmend auf die Ökonomie, gestalteten sich, so Jensen, die Texte nach dem Frieden von Breda (1667), der das Ende des zweiten Kriegs zwischen Großbritannien und den Generalstaaten besiegelte. Dies sei vor allem den Machtkämpfen um die Statthalterschaft (1650-72) geschuldet. Von diesem Amt seien beispielsweise die Oranier zunächst ausgeschlossen worden. Die Friedenspublikationen seien ein Beispiel dafür, dass der Friede sich auch als Kriegsfortsetzung gestalten könne. Der Vertrag von Nijmegen (1678) müsse schließlich literarisch vor allem vor dem Hintergrund zahlreicher Kriege der Republik gegen die Franzosen (Ludwig XIV.) gesehen werden. Zudem setzten sich innenpolitisch dann doch die Oranier mit dem oftmals als Retter gefeierten Wilhelm III. durch. Jensen analysiert hier vorwiegend Gelegenheitspublikationen, die von der bisherigen Forschung unbeachtet blieben, stellt allerdings kaum Unterschiede fest. Jedoch bestätige gerade die Wiederkehr von Wendungen wie „De Gouden euw lacht ons toe met een nieuwen glans – das goldene Zeitalter lacht uns mit einem neuen Glanz zu“ das sich entwickelnde, provinzübergreifende „Wir-Gefühl“. 

Das zweite Kapitel analysiert die Niederlande als Teil Europas, beginnend mit dem Frieden von Rijswijk (1697), der das Ende eines neunjährigen Kriegs zwischen Frankreich und der Allianz, bestehend aus Österreich, etlichen deutschen Fürstentümern, Spanien, England und der niederländischen Republik, darstellte. In dieser Phase, führt Jensen aus, rückte Europa vermehrt in den Vordergrund der Publikationen, auch und gerade im Sinne der pax christiana universalis als Antwort auf die Türkengefahr im Osten. Ferner kamen neue, auf Kolonisationserfahrungen basierende Eindrücke via Reiseberichte (Indien, China, Peru, Brasilien) hinzu. Der während der zweiten statthalterlosen Zeit (1702-47) geschlossene Friede von Utrecht (1713), welcher sowohl dem spanischen Weltreich, als auch der Stellung der niederländischen Republik als „europäische Großmacht“ ein Ende bereitete, markiert den Beginn des nächsten Untersuchungszeitraums. Die publizistischen Stimmen dieser Zeit zeichnen, so die Verfasserin, ein heterogenes Bild: Einige griffen auf den Batavermythos zurück, andere rückten die Rolle der Oranier in den Vordergrund, satirische Elemente seien dabei nicht selten.

Der Friede von Aachen (1748) beendete den österreichischen Erbfolgekrieg, sodass der Amsterdamer Dichter Jacobus van der Streng (1704-49) das Jahr 1748 als Wunderjahr proklamierte. Der Friedensvertrag wurde ferner durch die Tatsache, dass er exakt 100 Jahre nach dem Frieden von Münster geschlossen wurde, in ein historisches Licht gerückt. Zugleich nahm der „Oranierboom“, unter welchem das dritte, etwas kürzere Kapitel steht, zu: Wilhelm IV. wurde gefeiert, der „Achtzigjährige Krieg“, eng verbunden mit Wilhelm von Oranien, in Form eines schwarz-weiß-Schemas propagandistisch ausgeschlachtet. Ein Abbildungsteil auf Kunstdruckpapier leitet zum letzten großen Abschnitt der Publikation über: „Nationale Identität während und nach Napoleon“ – er beginnt mit dem Frieden von Amiens (1802, Friede zwischen Frankreich, den Niederlanden, Spanien und England), der einen neun Jahre währenden Streit in Europa beendete und sich in mehreren Gelegenheitspublikationen wie Gedichten, Schauspielen oder Liedern niederschlug. Napoleon, anfänglich in der Literatur noch als „Friedensrichter“ gefeiert, konnte, wie die Autorin festhält, mit dem genannten Friedensabkommen vor allem seine eigene Stellung festigen: 1806 installierte er die Niederlande mit der Erhebung seines Bruders Ludwig zum Königreich. Neben einer anfänglichen Napoleonverehrung nahm Merkur, der Handelsgott, eine zentrale Stellung in den Schriften ein. Ein weiteres Thema sei die Weltbürgerschaft gewesen, die weltoffenen Niederlande fungierten als Freiheitssymbol für alle Menschen. Einen einschneidenden Akzent setzte schließlich der Wiener Kongress, der die durch die verschiedenen Unionen von Utrecht und Arras (1579) getrennten Landen unter Wilhelm I (1772-1843) wieder zum „Vereinigten Königreich der Niederlande“ vereinigte und zu einer neuen Identitätsdiskussion führte; die Autorin fand hierfür passend die Überschrift: „März 1815: Nun gilt es Niederländer zu sein“. 

Im Epilog verweist Jensen abschließend auf das Manko der oftmals kriegsorientierten historischen Geschichtsschreibung, die immer wieder vergesse, dass es ebenso viele Friedensbeschlüsse gab. Mit diesem Hinweis nimmt sie eine ähnliche Position wie Siegrid Westphal ein. Allen Friedensereignissen gemein sei, so ihr Fazit, die Verheißung des Anbruchs einer neuen goldenen Zeit, welche zugleich als Basis für ein sich entwickelndes „Wir-Gefühl“ angesehen werden muss. Der Freiheitsgedanke, das Bataverideal und die Verehrungen einzelner Personen seien dabei immer wiederkehrende Elemente gewesen. Der Autorin gelingt eine überzeugende und vielschichtige Studie, in der die textliche Darstellung immer wieder durch aussagekräftige Abbildungen unterstrichen und ergänzt wird. Dem Benutzer, der nicht über Vorkenntnisse der niederländischen Geschichte verfügt, sei jedoch zum besseren Verständnis eine einführende Lektüre hinsichtlich der Ereignisse vor 1648 empfohlen, zumal Jensen die um den „Achtzigjährigen Krieg“ geführte Kontroverse hinsichtlich seiner Dauer, der handelnden Personen(gruppen) und „Aufstandszentren“ unerwähnt lässt.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Lotte Jensen: Vieren van Vrede. Het ontstaan van de Nederlandse identiteit, 1648–1815.
Uitgeverij Vantilt, Nijmegen 2016.
264 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9789460042874

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