Das glanzlose Elend der Prostituierten
Mit Else Jerusalems „Der heilige Skarabäus“ wurde der bedeutendste Bordell-Roman des 20. Jahrhunderts neu aufgelegt
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseProstitution sei doch ein Beruf wie jeder andere auch, erklären noch heutzutage manche Vertreterinnen von Hurenorganisationen. Abgesehen davon, dass überhaupt kein Beruf wie ein anderer ist, ist die Behauptung keineswegs sonderlich neu. Tatsächlich geistert diese Ansicht bereits seit mehr als hundert Jahren durch die Debatte um das vermeintliche Gewerbe. „Das Leben ist ein großer Markt“, meinte etwa eine Bordellbetreiberin namens Goldscheider bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts, „entweder man kauft oder man verkauft etwas anderes gibt es nicht“. Alle Gewerbetreibenden eines jedweden Berufsstandes fühlten ihre Würde, nur die Prostituierte, die „Glück gibt, kostbare Augenblicke des Vergessens und der Freude erzeugt“, sinke zur „schändlichen Sache“, klagt sie und hat zugleich noch ein weiteres Argument heutiger ProstitutionsapologetInnen parat. So, wie „Fleischhauer, Brothändler, Fischer […] ihre Notwendigkeit im Getriebe“ der Gesellschaft haben, sei auch die Hure ein „unentbehrliches Surrogat im sozialen Leben“.
Nun handelt es sich bei Madame Goldscheider zwar um eine literarische Figur – Else Jerusalem hat sie für ihren 1909 erschienenen Bordell-Roman Der heilige Skarabäus erdacht –, ihre Haltung entstammt jedoch sehr wohl der realen Welt des Rotlichtmilieus, das die Autorin etwa als entsandte Beobachterin der Frauenliga gegen Mädchenhandel während des Prozesses gegen Regina Riel, die unter den Augen der korrupten Wiener Polizei über zwanzig Zwangsprostituierte in ihrem Bordell eingesperrt hielt, minutiös studierte. Der zweifellos bedeutendste Bordell-Roman nicht nur des beginnenden 20. Jahrhunderts bezeugt denn auch auf jeder Seite das profunde Wissen seiner Verfasserin über das Wiener Prostitutionsmilieu der Zeit, indem er „die Prostitution in ihrer ganzen, jeden entschuldigenden Scheines, jeder Romantik entbehrenden Wahrhaftigkeit“ darstellt, wie Jerusalem in einem für Maximilian Hardens Zeitschrift Die Zukunft verfassten Beitrag erklärt. Nachzulesen ist das Zitat in Brigitte Spreitzers überaus kenntnisreichem Nachwort zur hier angezeigten Neuausgabe des Romans.
Er erzählt die Geschichte des fiktiven Wiener Bordells Rothaus und diejenige Miladas, die als Tochter einer Prostituierten im Bordell geboren wird und eben dort aufwächst. Ihre Mutter ist „die schwarze Katerine“, die einst von einem Großbauern verführt, geschwängert und noch vor der Niederkunft sitzen gelassen wurde. Zu Beginn ist Katerine noch eine auf ihre Art starke und selbstbewusste Frau, die sich vor allem durch ihre Rachsucht gegenüber ihrem Verführer aufrecht hält. Sie pflegt eine homoerotisch konnotierte Freundschaft zu Janka, der Nichte des besagten Großbauern, die sie aus Anhänglichkeit ins Bordell begleitet hat, ohne sich dort selbst zu prostituieren. Beide kennen sich schon seit den Tagen in der Klosterschule, wo sie schon einmal zueinander ins Bett krochen. Nun pflegt Katerine die Freundin „Schatz“ oder „Goldschatz“ zu nennen. Janka wiederum „verfolgt“ einen Mann, der die Zuneigung Katerines gewinnt, „mit eifersüchtigem Hasse“. Dessen Liebesverrat lässt nicht lange auf sich warten. Katerines einst „wilde, unbekümmerte Kraft, ein sieghaftes Zugreifen und Halten“ erlahmt im Elend der Prostitution und sie sinkt im Laufe der Jahre zur jämmerlichen Gestalt herab, die kläglich zugrunde geht.
Milada, ihre aufgeweckte Tochter, kennt noch als Heranwachsende keine andere Welt als die des vom „roten Blut der Laterne“ beleuchteten Rothauses. Für sie ist der Ort ihr Zuhause und Prostitution das Normalste von der Welt. Auch hat sie keinerlei Bewusstsein darüber, dass diese außerhalb ihres Umkreises als unsittlich und verächtlich gilt. Vielmehr ist sie „stolz auf die vielbegehrte Mutter“. Erst als Siebzehnjährige wird sie sich angesichts der allseits scheelen Blicke während eines Biergartenbesuchs bewusst, dass ihre Welt der Prostitution der bürgerlichen Gesellschaft als anrüchig und verachtenswert gilt.
Ein schweres, unerträgliches Gefühl der Vereinsamung fiel auf sie nieder. Aus diesen Blicken, diesen geahnten Worten, aus diesen deutlichen Gesten und aus dem Treiben der eigenen ruhlosen Gedanken baute sich Stein für Stein eine Mauer auf, hinter der ‚die anderen‘ saßen mit ihrem Stolz, ihrer Verachtung, mit ihrem Glücke und ihren Leiden, ihren Einrichtungen und Gesetzen, eine ewig getrennte Welt.
Letzteres stimmt natürlich nicht, denn die Herren Freier, von denen auch einige typische Vertreter den Roman bevölkern, betätigen sich als fleißige Grenzgänger zwischen den Welten. Unter ihnen nicht nur arme Schlucker und ungehobelte Kerle, sondern im Etablissement von Madame Goldscheider verkehren etwa auch Aristokraten, „Schriftsteller von Ruf“ und nicht wenige Studenten.
Milada ist sich nun bald darüber im Klaren, dass sie es sind, die Freier, welche die Schuld an dem, wie sie erkennt, „traurigen Gewerbe“ tragen. Denn „Geschäft ist doch nur die wirtschaftliche Antwort, es ist nur da, weil sich das Bedürfnis danach geltend macht und durch alle Straßen streicht“. Die heuchlerischen BürgerInnen aber klagt sie an: Es ist „euer Hochmut, euer Haß, eure unbeschreibliche tyrannische Moral“, die den Prostituierten „Wärme, Segen, Lebensmöglichkeiten durchaus entzogen hat“.
Milada reift zur jungen Frau heran und inzwischen kennt niemand sonst das Geschäft so gut wie sie. Dabei ist es mehr als hilfreich, dass das kluge und gescheite Mädchen schon frühzeitig lesen gelernt hat. Später werden sich sehr zum Erstaunen eines Freiers auf dem Bücherregal der nunmehr erwachsenen Frau Marxens Kapital, Max Stirners individualanarchistisches Buch Der Einzige und sein Eigentum und Ludwig Büchners materialistisches Philosophenwerk Kraft und Stoff, aber auch Schopenhauers fundamentalpessimistische Parerga und Paralipomena sowie Werke von August Bebel und August Fournier finden. Friedrich Nietzsche allerdings wird nicht genannt. Dies sticht umso mehr ins Auge, als Miladas Mentor, ein langjähriger Bordellgänger, ohne weiteres als – allerdings pessimistisch gewendeter – Nietzscheaner kenntlich ist. So teilt er mit seinem Ideengeber etwa die Auffassung, „alles, was hilflos ist“, solle nicht nur „untergehen“, man müsse es „sogar stoßen“, und endet wie der philosophasternde Modeautor der Zeit jämmerlich in geistiger Umnachtung.
Die sich über einige Jahrzehnte erstreckende Handlung bietet der Autorin Gelegenheit, zahlreiche Schicksale sehr unterschiedlicher Frauen, die auf ebenso mannigfache Weise in die Prostitution gerieten, mit großer Gestaltungskraft und Einfühlsamkeit zu entwickeln. Eine jede von ihnen spricht etwa je nach geographischer und sozialer Herkunft in einem ganz eigenen Idiom und Jargon. So verschieden die Frauen und ihre Geschichten auch sind, elend sind sie alle, die
Mädchen mit großem und durstigem Willen; Mädchen von aktiver Intelligenz und heftigem Temperamente, die sich wie gefangene Fliegen gegen den giftigen Klebstoff wehrten, der sie festhielt. Und dann auch Mädchen, die in den Sumpf noch das Scheugefühl der Weiblichkeit nachgezogen – und sie alle – die Guten und Schlechten, die Starken und Schwachen gingen zugrunde, mußten zugrunde gehen.
Dabei idealisiert Jerusalem die unglücklichen Prostituierten keineswegs. Wie die Autorin überhaupt jeder Schwarz-Weiß-Malerei abhold ist, wenn auch die Grautöne gerade so dunkel sind, wie es die Realität der Prostitution gebietet.
Das umfangreiche Figurenkabinett des Romans ist nicht ohne weiteres überschaubar und wechselt im Laufe der auf Jahrzehnte angelegten Handlung. Wie es nicht anders sein könnte, gehören ihm ganz überwiegend prostituierte Frauen an. Hinzu kommen etwelche Freier, diverse „Bordellmamas“ sowie dieser oder jener korrupte Beamte nicht nur der Strafverfolgungsbehörden. Jerusalem hat das Kunststück vollbracht, sie alle mit einem individuellen Charakter und insbesondere die Prostituierten mit unverwechselbaren, ganz eigenen Geschichten auszustatten, dabei aber doch in diesen Figuren zugleich Charaktere und Schicksale zu personifizieren, wie sie für das Milieu typisch sein dürften.
Zwar sind einige der Bewohnerinnen des Rothauses in jüngsten Jahren völlig ahnungslos in die Fänge eines Netzes von Mädchen- und FrauenhändlerInnen geraten, andere wiederum haben die Tätigkeit bewusst aufgenommen oder sind durchtrieben und manchmal auch hinterhältig. Nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind sie fast alle. Zwar sind einige von ihnen durchaus in der Lage, ihren Leidensgenossinnen gegenüber eine gewisse Hilfsbereitschaft an den Tag zu legen, Solidarität kann sich so aber nicht entwickeln, zumal wenn die Bordellbetreiberin die Konkurrenz aufrechtzuerhalten weiß.
Die Jahrzehnte dauernde Handlung erlaubt es der Autorin auch, verschiedene Typen von Bordellbetreiberinnen und ihrer jeweiligen Art, das Haus zu führen, darzustellen. Denn das bezeichnenderweise in einem „Sackgässchen“ gelegene Rothaus wandert im Laufe der Zeit von Hand zu Hand. So wird es von den verschiedensten „Bordellmamas“ geführt, deren Herkunft nicht weniger breit gestreut ist als die der Prostituierten, wobei die Autorin nicht nur die je ganz eigenen Charaktere der Herrscherinnen im Rothaus, sondern auch ihre verschiedenen für das Milieu typischen Wirtschaftsweisen schildert.
Zu Beginn funktioniert das alte Rothaus in der damals noch heruntergekommenen Gasse exakt wie ein heutiges Laufhaus. Die Verwalterin des Hauses ist die „einzige Instanz“ und sein Besitzer streicht die täglich von den Frauen zu zahlende horrende Miete für die schäbigen Zimmer ein, in denen die Frauen ihr Dasein fristen und die Freier empfangen. Auch werden die Prostituierten (ebenso wie noch heute) schnell mit anderen Bordellen ausgetauscht. Denn es ist „besser, immer jungen und frischen Zuzug zu haben – das füllt die Taschen“. Frauen, die länger bleiben, sind hingegen nicht gern gesehen, da sie mit der Zeit beginnen, sich „allerlei Freiheiten“ herauszunehmen oder gar „Freunde und Beschützer“ finden, „die über jedes sogenannte Unrecht Zeter schrien“. Für den Nachschub sorgt die Verwalterin selbst zudem an den Wiener Bahnhöfen, wo sie „hübsche stadtfremde Fräuleins“ mit falschen Versprechungen umgarnt.
Madame Goldscheider, die nächste Besitzerin, verwandelt das heruntergekommene Haus in einen ‚edlen‘ Salon. Die, wie sie meint, „zur Lust des Mannes geborenen“ Frauen werden von ihr nicht nur „aufs Beste dressiert“, auf dass sie in der Gesellschaft der ‚höheren‘ Herren aufs Angenehmste zu parlieren verstehen und jeden Fauxpas zu vermeiden wissen. Auch dürfen sie sich anders als in manch billigen Häusern, in denen Prostituierte wie Gefangene gehalten werden, frei bewegen, doch hat ihre Herrin sie derart verschuldet, dass es selbst diejenigen, die überhaupt auf einen solchen Gedanken kommen, nicht wagen davonzulaufen. Madame Goldscheider behandelt ihre – wie sie sagt – „Fräuleins“ zwar stets höflich und vermeidet jedes laute Wort, doch ist sie sich sehr wohl bewusst, dass sie die jungen Frauen zerstört. So erklärt sie etwa der Besitzerin des Hamburger „Salons Georgette“,
dass wir Unternehmer, wir Kapitalisten meine ich, wie gewöhnlich die Hauptschuld tragen. Wir rauben den Mädchen zuerst ihre Menschlichkeit und machen sie zu willenlosen und damit freudlosen Sklavinnen. Denn nur der eigene Wille, Madame, schafft Glück.
Trotz dieser Erkenntnis zieht Madame Goldscheider „einen groß angelegten Mädchenhandel“ auf, der unter den Augen der mit dem „sauerverdienten Geld der Mieterinnen“ geschmierten Polizeispitzel seinen ganz geregelten Gang geht.
Dem Salon Goldscheider wiederum folgt der Salon Miller, dessen ebenso geizige wie bigotte Inhaberin, eine ehemalige Wirtin einer Landpfarrei, sich den Kauf des Bordells – alles andere als guten Glaubens – aufschwatzen ließ. Zwar ist sie voller moralischer Verachtung für die Prostituierten, doch zählt sie des Morgens nach dem Kirchgang das „Geld des vergangenen Abends mit noch nach Weihrauch duftenden Fingern“ und verwahrt es „mit höchst befriedigtem Gesicht“ in ihrer Kasse.
Dabei ist die bigotte Frau von ihrem Naturell her ganz und gar untauglich, ein Bordell zu führen. Milada nimmt ihr die Aufgabe daher, unter der Hand für sie selbst und Miller zunächst fast unbewusst, ab. Schnell wird deutlich, dass die Inhaberin ohne Milada völlig hilflos ist. In einer kurzen, aber von ihrer Seite klug und hart geführten Verhandlung erreicht Milada, mit zwanzig Prozent am Umsatz beteiligt zu werden, selbst nicht mehr prostituiert zu werden und ein Vorkaufsrecht auf das Bordell zu haben.
Hatte sie sich früher noch „eins mit allen Mädchen gefühlt, deren Leben im Schoße der Nacht liegt, die aus der Tiefe in das grelle Licht der Sünde tanzen und in die Tiefe zurückfallen, wenn es erlischt“, so ist sie inzwischen „durch Gewohnheit zu abgestumpft, um Mitleid oder gar Gewissensbisse zu empfinden“. Immerhin gestattet sie den Frauen als Wirtschafterin: „Wenn ihr einmal nicht in Stimmung seid oder gerade einen nicht wollt. – Bleibt oben!“ Schon „dieser kleine Spielraum, den sie der Menschlichkeit freiließ“, unterschied sie vom „brutalen und anwidernden Übereifer der Bordellmamas“.
Weit ärger als Goldscheider und Miller treibt es das „System Spizzari“, das als letztes die Herrschaft über das Bordell ergreift. Denn in Nelly Spizarri, der neuen Herrin des Bordells, „verkörpert sich der Typus der tüchtigsten und gewissenshärtesten aller Unternehmerinnen, die bisher dem Rothause vorgestanden hatten“. Sie führt die Kinderprostitution ein, lässt sich die tatsächliche oder vermeintliche Entjungferung der jungen Geschöpfe teuer bezahlen und preist den Freiern ihre ‚Ware‘ mit den Worten „Rindfleisch müssen Sie teurer zahlen“ an.
Milada fällt unterdessen ganz unerwartet eine beträchtliche Summe Geld zu, von der sie hoch im österreichischen Gebirge ein abgelegenes Kinderasyl einrichten möchte.
Was nun aber von den „stolzen Taten, die Miladas Wille einst zu erschaffen strebte“, bleibt, und ob sie sich, eventuell sogar mit anderen, aus dem Bordellsystem zu befreien vermag, soll hier offenbleiben. Ebenso, was es mit dem für einen Bordellroman doch recht wunderlichen Titel des Buches auf sich hat. Gesagt sei aber, dass er auf eine fixe Idee des letztlich falschen Mentors zurückgeht, dem Milada eine Zeit lang folgt – und auch, dass das Ende des Romans nicht weniger illusionslos ausfällt als sein ganzer Inhalt.
Jerusalem hat mit dem heiligen Skarabäus einen Bordell-Roman über das glanzlose Elend der Prostituierten vorgelegt, der alle seinesgleichen weit hinter sich lässt und auch im 21. Jahrhundert nichts von seiner Bedeutung eingebüßt hat.
|
||